Total vernetzt. Und ganz allein.
Ist das Netz ein ‚guter Ort‘ für Menschen ohne Halt? Was können wir tun bei Depressionen? Diese Fragen beschäftigen mich, seit ich kürzlich früh am Morgen auf Twitter eine bestürzende Nachricht las. Und den Abschiedsbrief eines Bloggers.
Morgens um sieben ist die Welt für mich immer ohfamoos. „Guten Morgen allerseits“ twittere ich mein tägliches Ritual. Viele treffen sich morgens in der virtuellen Kaffeerunde. Es sind zumeist dieselben. Manche sind fröhlich und witzig, andere fürsorglich und philosophisch. Eine Hamburgerin fällt mir besonders auf. Als ‚Nordlicht…meer Meer‘ begrüßt sie ihre Follower jeden Morgen persönlich und fragt, wie es ihnen geht. Ob diese sie morgens schon erwarten? Es ihnen etwas bedeutet? Immerhin – sie antworten schnell, schicken Herzen und Sonnenschein.
Manchmal vermisse ich den einen oder anderen, wenn ein Tweet ausbleibt, bis sie sich wieder zurückmelden aus dem Urlaub z. B.
Düsterer Morgen
An diesem Morgen war einer besorgt. Es ging nicht um reißerische Schlagzeilen der Leitmedien wie nach den Anschlägen von Nizza, Würzburg und München.
Jemand twitterte mit dem Beisatz: „Bitte sucht ihn und helft ihm, es ist offensichtlich wichtig“.
In Windeseile verbreitete sich die Suchmeldung auf Twitter. Als ich auf den Link klickte, las ich den Abschiedsbrief eines bekannten Bloggers und Online-Helden. Unter dem Titel ‚Am Ende‘ erklärte er seine Wünsche für die Zukunft, die sich ohne ihn abspielen wird. Ich las das Ganze nochmal, konnte nicht glauben was sich gerade abspielte und hoffte, dass das Alles ein Missverständnis ist. Ich las in meiner Timeline offensichtlich tief beunruhigte Worte seiner Freunde und Kollegen. Sie haben die Polizei informiert. Ich verfolgte die Suchmeldung der Polizei, die Aufrufe eines Psychologen, die Bitten seiner Freunde. War erschüttert, traurig und hoffte inständig, dass der 42-jährige lebend gefunden wird. Gegen 14 Uhr die befürchtete Nachricht, man habe ihn tot aufgefunden. Die Familie bat, man möge nicht über seinen Tod spekulieren, sondern die schönen Erinnerungen teilen, die man mit ihm hatte!
Kranke Seele
An den darauffolgenden Tagen las ich ganz viel Anteilnahme und bewegende Geschichten über Johannes Korten. Was für ein wundervoller, wertvoller Mensch er war und wie er anderen geholfen hat, für andere da war. Er hatte z. B. mit #einbuchfürkai eine beispielhafte Aktion initiiert, in dem er half, das Buch seines kranken Autoren-Freundes zu vermarkten. Mit den Einnahmen linderte er die finanzielle Not der Familie. Er hatte einem Team geholfen sich online aufzustellen. Und ist ein Freund gewesen, der zuhörte, der gute Ideen hatte und ganz stark daran glaubte, dass das Netz ein guter Ort sei. Davon war er wohl bis zuletzt überzeugt, denn an diesem guten Ort hat er seinen Abschied angekündigt. Die reale Welt konnte er offenbar nicht mehr aushalten mit ihrem Wahnsinn der letzten Monate, interpretierte ich einige Zeilen in seinem Brief.
Seine Geschichte bewegt mich sehr. Schon oft habe ich gedacht, dass viele einsame oder psychisch kranke Menschen durch die sozialen Netzwerke vermutlich Freunde finden, die sie im realen Leben nicht haben.
Dass sie auf das virtuelle „Guten Morgen allerseits“ warten, weil es der einzige morgendliche Gruß ist für sie. Als ich Cornelia schreibe, dass ich ein neues Mantra habe und mir vornehme immer gut zuzuhören und aufeinander zu achten, schreibt sie mir: „Dein Mantra ist goldrichtig, und doch hilft es nicht: Die wirklich Entschlossenen sind Meister der Täuschung aber es ist Schei***, wenn die Welt so schwarz für Einzelne wird.“
Verständnis kommt von verstehen!
Ich recherchiere über Depression und erfahre: sie hat selten eine einzige Ursache. Meist führt ein Zusammenspiel verschiedener Faktoren zur Erkrankung.
- Insgesamt sind in einem Jahr durchschnittlich 8,3 Prozent der Bevölkerung depressiv krank. Das sind ca. vier Millionen Menschen. Hinzu kommen Dysthymien (4,4 Prozent), eine etwas weniger stark ausgeprägte, aber chronische Variante der Depression, die mindestens zwei Jahre lang dauert. Insgesamt leidet mehr als jeder achte Deutsche pro Jahr an einer affektiven Erkrankung. Das Risiko, einmal im Leben an einer Depression zu erkranken, beträgt in Deutschland, in den USA und in Europa 16 bis 20 Prozent. (Psychotherapeutenkammer NRW)
- Fast 90% der jährlich ca. 9000 Suizide und 150.000 Suizidversuche in Deutschland erfolgen vor dem Hintergrund einer oft nicht optimal behandelten psychischen Erkrankung.
- Die meisten depressiven Patienten befinden sich beim Hausarzt in Behandlung. Für diesen ist es oft schwierig, eine Depression zu diagnostizieren, da die Patienten körperliche Beschwerden in den Vordergrund stellen und so die zugrunde liegende Depression bei mehr als der Hälfte der Patienten nicht erkannt wird.
- Selbst wenn die Depression erkannt wird, erhält nur weniger als die Hälfte dieser Patienten eine konsequente antidepressive Behandlung – sei es, weil ärztlicherseits keine wirksame Behandlung verordnet wurde, sei es weil die Patienten die Behandlung, z.B. die Einnahme von antidepressiven Medikamenten (Antidepressiva), nicht einhalten bzw. vorzeitig wieder abbrechen oder das Angebot einer Psychotherapie ablehnen. (Stiftung Deutsche Depressionshilfe)
Ohfamoose Begegnungen schaffen!
Es ist erschreckend, dass depressive Erkrankungen zur Volkskrankheit mutiert sind. Und dass dieses Krankheitsbild offenbar immer noch eines „mit Geschmäckle“ ist. Angehörigen ist es peinlich, Kranke schämen sich, Beteiligte sind vollkommen hilflos im Umgang mit Betroffenen. Ich denke das liegt auch daran, dass nicht offen genug darüber geredet wird. Und dass die Aufmerksamkeit und das Miteinander – ob im beruflichen oder persönlichen Kontakt – sich viel zu sehr auf Greif- und Sichtbares konzentrieren. Dass für reale und aufrichtig interessierte Gespräche scheinbar zu wenig Zeit ist.
Mein Mantra gilt: Ich werde weiterhin in realen Begegnungen zugewandt und aufmerksam sein. Und auch Menschen, denen ich nie begegnet bin, einen guten Morgen zwitschern und hoffen, dass mein kleiner Tweet sie gut in ihren Tag begleitet.
Wer sich für dieses schwierige Thema interessiert, dem empfehle ich dieses ohfamoose Buch: ‚Leben kann auch einfach sein‘ von Stefanie Stahl.
Ähnliche Themen auf ohfamoos:
Wie kann ich ein Trauma Überwinden?
Wir teilen uns zu Tode – zwischen Fun – Videos und Selfies
Fotos: Daniel Zanetti, Pixabay