Lebst Du schon oder optimierst Du noch?
Immer wieder werde ich gefragt was mir als erstes auffällt, wenn ich wieder deutschen Boden betrete. Dieses Jahr bin ich mit gemischter Vorfreude in den Flieger gestiegen. Die Medien transportieren ein von Angst getriebenes deutsches Volk in die Welt. Angst vor neuen Mitbürgern, Angst vor Freihandelsabkommen, Angst vor Veränderung. Aber…
Deutschland ist toll.
Und zwar noch besser als ich es in Erinnerung hatte. Alles funktioniert, alles ist sauber, der Sozialstaat bietet ein sicheres Netz. Den Menschen geht es wirklich sehr gut in Deutschland, was allerdings die wenigsten zu schätzen wissen.
Anstatt sich einfach mal zu freuen.
Was mich geplättet hat war das (Über)Angebot an Optionen. Sei es beim Einkaufen im Supermarkt oder bei der leidigen Parkplatzsuche. Die XXL Parkplätze (natürlich teurer!) am Münchener Flughafen haben den Vogel abgeschossen. Für alles gibt es ein Produkt! Für jedes mögliche ‘Problem’ eine Lösung. Und es geht – wie sollte es auch anders sein – immer ums Geld.
Deutschland im Optimierungswahn.
Welches Verhältnis haben wir Deutschen eigentlich zum lieben Geld? Und ist Geld an sich, das doch nur ein Tauschmittel ist, fälschlicherweise zum Seismograf für Erfolg, Leistung und Wertschätzung hochstilisiert worden? „Geld regiert die Welt“?! Eben nicht, behauptet eine, die als Geldbeziehungs-Expertin arbeitet. Mit ganz schön steilen Thesen! Mehr dazu am kommenden Donnerstag bei uns auf ohfamoos.
Fotos: privat und unsplash (Clark Young)
Liebe Melli, Dein Impuls zum Thema Optimierungswahn ist Dir super gelungen. Ich möchte noch beitragen, was der Mediziner, Psychologe und Soziologe A. Retzer dazu geschrieben hat (Danke an Sonja für den Buchtiipp!). Denn ich glaube es geht (auch hier) um Kulturfragen. Er schreibt, und das ist schon ein paar Jahre her und nichts Neues, aber er bringt es m.E. gut auf den Punkt. Begründet sich die von Dir beschreibene Angst vielleicht auch darin, nicht mehr alles mitzukriegen? Deshalb die Mühe, an vielem eben ein Stückchen zu partizipieren? Und haben Politiker dann leichtere Beute etwas zu versprechen, was sie später dann gar nicht einlösen brauchen, es erinnert sich ja keiner mehr so richtig dran, nehmen wir halt die nächste Option…
„Die neue Zeitkultur hat den Simultanten hervorgebracht: einen Menschen, der die Dinge nicht nacheinander, sondern gleichzeitig tut und dessen wichtigstes Instrument das Handy und der Laptop ist. Aktiv rund um die Uhr, von zeitlichen und räumlichen Bindungen befreit, kann er gleichzeitig telefonieren, E-Mails lesen und den drucker bedienen. Man begegnet ihm unterwegs mit anrufbereitem Handy, Laptop und MP3-Player, wo er sich in den ICEs und auf Flughäfen während der Arbeit das Frühstück servieren lässt, mit seiner Freundin und danach mit seiner Frau telefoniert und am Abend auf der Rückreise sich gleichzeitig am Laptop zu schaffen macht, einen Tee trinkt, mit seiner Reisebegleiterin flirtet und seine kleine Tochter mit dem Handy zu Bett bringt. Multitasking hat fast in allen lebensbereichen Einzug gehalten: In der Esskultur, der Freizeitkultur, der Familienkultur und auch in der Liebeskultur setzt man auf die vielen Möglichkeiten der Erlebnisverdichtung. Man ist dabei gleichzeitig an- und abwesend, hier und dort, allein und in Gesellschaft.“