Vergiss die Welt oder: Der Alltag kann mich mal.
Manche rennen plötzlich mehr als 42 km über Asphalt. Andere lernen Noten und üben Partituren. Die nächsten bauen Möbel, fahren Rennrad, bemalen riesige Leinwände oder bereisen die ganze Welt. Ich reite. Und laufe. Aber mit dem Reiten ist es anders. Das hat meinem Mädchenherz schon ungeahnte Höhenflüge geschenkt. Und genau so fühlt es sich heute noch an: Wenn ich bei den Pferden bin, dann vergesse ich die Welt.
Du kennst sie: Die Lebensstöhner und die Lebenskünstler. Die Stöhner verzagen manchmal an der Last des Alltags. Der Job, der Haushalt, die Familie. Nicht zuletzt: Versicherungen und die Wahlen im September! All die Entscheidungen, die es zu treffen gilt. Die vielen Themen, die uns beschäftigen. Puh. Und wenn dann diese Lebenskünstler an uns vorbeipfeifen, die ja auch ein Alltagspäckchen haben und es scheinbar lächelnd bewältigen… mannomann, da möchte manch‘ Stöhner es echt mit Nachdruck tun.
Die Pflicht beherrschen die meisten von uns ja ohnehin! Wir müssen aufpassen, dass sie den Spieß nicht umdreht und am Ende uns beherrscht, richtig?! Denn das wäre echt Grund zum Stöhnen!
Mehr Kür statt Pflicht
Es scheint, Lebenskünstler scheren sich weniger drum. Die Pflicht, die kann sie mal! Die Kür ruft mindestens genauso laut. Aus ihrem Munde kommen vergleichsweise selten die Wörter „müsste, sollte“ usf. Stattdessen tun sie sehr gezielt das, was ihnen Spaß macht. Was ihnen gut tut. Ganz häufig erlebe ich Erwachsene, die sich auf der Suche nach Entspannung und Ausgleich, Lebensfreude und Sinnfindung an Dinge erinnern, die sie als Kinder so liebten. Und die sie irgendwo auf dem Weg zu Karriere&Haus&Beziehung&Familie verloren glaubten.
Doch was wir als Kinder schon liebten, kann uns im Erwachsenenleben diese Leichtigkeit zurück schenken, die uns kreativ, wohlwollend, versöhnlich und neugierig sein lässt.
Schließlich ist Glück ein Tu-Wort
Viele – insbesondere jenseits der 40 – suchen nach Auszeiten und einer gesünderen Balance zwischen „müssen und wollen“. Kindliche Freude erleben, im Augenblick die Welt da draußen vergessen. Ins Fühlen kommen. Oft ist es ein Hobby, das man früher schon mochte oder mit dem man bereits lange liebäugelt. Wer das in seinen Alltag integriert, holt sich mehr vom „Ich“ zurück. Wie sagte schon Voltaire: „Da es sehr förderlich für die Gesundheit ist, habe ich beschlossen, glücklich zu sein.“ Ganz einfach machen ist also die Devise. Einen Anfang beschließen.
Laufen, dekorieren, reisen, malen, tischlern – was treibst du so?
Wir fänden es toll, wenn du uns und unsere LeserInnen inspirierst. Was tust du regelmäßig, das deinen Alltag dekoriert, dir Auszeiten und Kraft schenkt? Wann hast du damit angefangen und was war der Trigger?
Ich fange mal an: Mit gut 40 habe ich mich wieder aufs Pferd gesetzt, zuvor viele Jahre nur mal hier und dort einen Ausritt überstanden. Schließlich hat mich die Begeisterung für die „Pferderei“, wie ich es immer nenne, nie verlassen. Denn es geht um weit mehr als das Reiten! Es fängt an mit den Düften. Ein Pferd riecht wunderbar, Heu und Leder auch, finde ich. Schau mal Pferden beim Toben auf der Weide zu. Oder beobachte sie beim Grasen. Sofort kehrt Ruhe ein ins innere System. Lausche in der Stallgasse, wenn sie ihr Kraftfutter fressen, dieses Mahlen und Kauen hat etwas sehr friedliches. Und ganz ehrlich – wenn ich auf dem Pferderücken die Natur erlebe, dann sind das perfekte Momente. Glück einfach. Dann bin ich eins mit mir. Diese Gelassenheit nehme ich dann mit in meinen Alltag.
Manchmal mache ich mich zwar nach einem langen Tag abends z. B. stöhnend auf den Weg in den Stall; drei Stunden später kehre ich aber strahlend heim. Immer! Wirklich immer! Ich spüre jeden Muskel in meinem Körper, bin verdreckt und verschwitzt, der Kopf ist erfrischt und erholt. Es ist wohl so: Körper, Seele und Geist werden gleichermaßen gefordert. Denn Reiten an sich verlangt Fokus. Mit rund 700 Kilo, die ihren eigenen Kopf haben, zu tanzen, ist für mich zumindest ganz oft eine große Herausforderung. Und ein Pferd spürt sofort, ob ich gut oder schlecht drauf bin, bei der Sache oder abgelenkt bin. Nicht-Reiter denken, man müsse sich ja nur tragen lassen. Oh nein, weit gefehlt. Viel mehr setzt man ungeahnte Muskeln sehr gezielt ein, koordiniert Balance, Gelassenheit, Kraft und Konzentration. Ein stetiger Wechsel zwischen An- und Entspannung ist das! Und dann die stetige Interaktion mit einem Lebewesen, non-verbale Kommunikation, Körpersprache. Authentizität spielt da eine große Rolle. Vielleicht fasziniert es mich deshalb so sehr, weil es komplex und facettenreich ist, es mich immer wieder vom Denken ins Fühlen bringt. Man es nie wirklich kann. Und weil mein Kleinmädchen-Traum vom fliegenden Galopp über endlose Weiden mit MEINEM Gefährten immer noch nicht ausgeträumt ist.
Es ist doch so: Der Alltag fordert uns mächtig. Wenn wir in ihm gesund und heiter bestehen wollen, eher zu den Lebenskünstlern statt zu den Lebensstöhnern zählen möchten (und ich bin überzeugt – das ist eine Entscheidung, die wir treffen können), dann brauchen wir Inseln oder Spielplätze oder Auszeiten. Und ich glaube, es ist nie zu spät, mit etwas Ohfamoosem anzufangen oder es wieder zu lernen. Schon gar nicht, wenn es seit Kindesbeinen seinen Platz in uns hat!
Text: Cornelia Lütge
Foto: unsplash (Johan Rydberg)
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