Wie ich durch die WM zum Russland-Fan wurde…
Einmal im Leben wollte Gastautor Martin Reents Olympia oder eine Fußball-WM erleben. Das hat er nun hinter sich – und sich spontan entschieden für uns zu schreiben. Denn wir waren von seinen Facebook-Aktivitäten so angetan, dass wir ihn gleich nach Ankunft in Deutschland fragen „mussten“. So nett hatte er beschrieben, wie er mit den Mexikanern tanzte oder mit den Schweden feierte. Facebook-Freunde waren entzückt. Was also hat Martin alles erlebt in Russland? Übrigens, kaum zurück, hat er sich schon wieder aufgemacht zur WM gen Osten…
Letztes Jahr habe ich mich spontan an der „Ticket-Lotterie“ beteiligt und prompt sieben Tickets zugeteilt bekommen, mit denen ich der deutschen Mannschaft bis ins Finale folge. Die erste Reaktion von Freunden, als ich das erzählt habe, war: „Super. Wenn man das in Brasilien gehabt hätte…. Aber nach Russland?“ Daran hatte ich nicht gedacht. Ich hätte das Projekt fast wieder aufgegeben. Aber dann habe ich mir doch ein Flugticket nach Moskau gekauft und bin einfach losgeflogen…
Fußballerisch bescheiden, aber Russland und die Russen – Wow!
Es kam dann genau umgekehrt als ich es erwartet hatte: Fußballerisch bescheiden, aber Russland und die Russen – Wow! Ich bin total begeistert. Und so ging es allen Fans aus allen Ländern, die ich getroffen habe. Eine Welle der Offenheit ist durch das Land geschwappt, und die Russen haben das wohlwollend aufgenommen. Nie aufdringlich, immer super freundlich. Tolle Gastgeber!
Und tolle Gäste! In Moskau zogen zehntausende, Sombrero-schwenkende Mexikaner singend durch die Nikolskaya Ulitsa zum Kreml. Sie waren so unglaublich fröhlich und begeistert.
Mein erster Abend am Roten Platz gehörte also den Mexikanern. Das war der Abend VOR dem Spiel gegen Deutschland! Sie feierten die ganze Nacht durch. Als ich am nächsten Morgen durch Moskau joggte: Die Mexikaner waren immer noch da, sangen immer noch, machten immer noch Fotos mit jedem, der sie danach fragte. Jeder liebte die Mexikaner. Nach dem Spiel waren sie dann restlos aus dem Häuschen.
Hey, Trump: Du brauchst keine Mauer mehr. Die Mexikaner gehen jetzt alle nach Russland!
In Sochi traf ich dann auf die Schweden. Später, im Stadion, sah man, dass es gar nicht so viele waren, vielleicht 5.000, vielleicht sogar weniger. Aber diese Wenigen verbrachten die 24 Stunden vor dem Spiel draußen, auf der großen Wiese vor dem Stadion. Sie feierten die Sonnenwende und ihre Mannschaft. Wenn man durch den Olympiapark lief: An den Schweden kam man nicht vorbei. Und auch beim Spiel dominierten die Schweden mit ihrer großen Fröhlichkeit die Arena. Wie traurig waren sie, als es nach 95 Minuten plötzlich: Krooooos hieß…
Doch #DieMannschaft und die deutschen Fans haben sich entfremdet…
Und die Deutschen? Das deutsche Team hatte in allen Spielen und auch außerhalb viele, vielleicht sogar die meisten Fans, vor allem Russen und Asiaten. Insofern ist Bierhoffs Strategie, #DieMannschaft zu einer Marke aufzubauen, die man auch international vermarkten kann, voll aufgegangen. Vor dem Teamhotel der Deutschen in Kasan standen permanent gut hundert Fans. Viele davon waren Süd-Koreaner, die ein Autogramm von Reus oder Hummels wollten. Nur Deutsche waren keine dabei. #DieMannschaft und die deutschen Fans haben sich entfremdet. War man #ZSMMN (Bierhoff’sch für: „zusammen“)? Mitnichten. Vielleicht habt ihr tausende deutsche Flaggen bei den Spielen gesehen? Inszeniert von der „deutschen Fan-Botschaft“, einem Gemeinschafts-Projekt des DFB und des Auswärtigen Amts. Die Fahnen waren gesponsert und vor den Spielen in den beiden deutschen Fan-Blöcken ausgelegt. Am Abend vor unserem letzten Spiel fand ich sie dann endlich doch, die deutschen Deutschland-Fans. Die „Fan-Botschaft“ hatte zu einer „Fan-Feier“ ins Maximilian’s eingeladen, einem großen, bayrischen Brauhaus mitten in Kasan. Hier war man unter sich. Es gab sie nicht, die öffentlich feiernden deutschen Fans, die für unser Land, unsere Demokratie, unsere Werte warben.
Aber welche Werte sind das auch? Die Özil-Erdogan-Symbolik hat uns alle sehr verunsichert. Was soll man mit einem Nationalspieler anfangen, der sich nicht festlegen mag? Klar ist Özil Deutscher. Klar hat er türkische Wurzeln und wird dafür auch in der Türkei geliebt. Und klar will er sich in beiden Märkten gut positionieren. Nur geht das eben nicht zusammen mit Wahlkampfhilfe für Erdogan, einem erklärten Deutschland-Gegner, einem, der unsere Offenheit und Toleranz mit Füßen tritt. Wenn man einen solchen Fehler macht, dann muss man Konsequenzen ziehen: Entweder Özil distanziert sich klar von Erdogan oder er fliegt aus der Nationalmannschaft. Mit Rassismus oder Nationalismus hat das nichts zu tun, sondern mit wahrer Menschlichkeit: Wer weiß, wohin er gehört; wer sich in seiner Gruppe geborgen fühlt; wer sicher ist – Der ist kann sich auch für andere öffnen.
Identität und Zugehörigkeit sind die Voraussetzungen für wahre Offenheit. Alle haben Spaß mit verrückten Mexikanern und freudetrunkenen Schweden. #ZSMMN ist dagegen einfach nur Marketing-Bullshit!
Deswegen bin ich ab sofort Schweden-Fan. Und wenn die ausscheiden: Mexiko-Fan. Und Russland-Fan bin ich sowieso. Klar ist die WM vor allem auch Putin-Propaganda. Aber sie ist eben auch eine Chance, für unsere Werte, unsere Demokratie und unsere Offenheit in Russland zu werben. Hunderttausende mexikanische, schwedische, marokkanische, englische,… Fans tun das weithin sichtbar und hinterlassen Wirkung bei den russischen Gastgebern.
Nur wir Deutschen hocken #ZSMMN im bayrischen Brauhaus in Kasan, grübeln über #DieMannschaft und darüber, wie wir den Russen das mit „unserem Präsidenten Erdogan“ erklären sollen…
Fotos: Martin Reents
Mehr über Martin in diesem ganz anderen Artikel über ein außergewöhnliches Kinderbuch.
Klare Kante. Gut!!
Das ist doch wunderbar – Sport verbindet wirklich und schlägt Brücken, auch in Länder, denen so mancher (geprägt auch durch eine eher einseitige Medienberichterstattung?) vorher eher kritisch gegenüber stand. Ich freue mich über jeden einzelnen, der die Menschen in Russland durch persönliche Begegnung besser kennenlernen kann und sich so ein eigenes Bild macht – und (wie übrigens fast überall auf der Welt) eine viel positivere und herzlichere Erfahrung macht, als er erwartete. Politik und Staatsführung sind eine Seite der Medaille, aber die Menschen und deren Wärme machen uns gerade auch in Russland klar, wie nah wir Deutsche und anderen Europäer auch unseren Brüdern und Schwestern hinter dem einstigen Eisernen Vorhang sind. So wie es auch früher schon einmal war, zu Zars Zeiten :))