Europa – wir wählen gegen diesen Sumpf
Europawahl und das Ende der Regierungskoalition in Wien – wie passt das zusammen? Elke hat Interviews zum Thema Europa geführt. Einer sagte schon vor der Veröffentlichung des Ibiza-Videos: „Mir ist es zu gefährlich, mich allein auf meine direkte Regierung verlassen zu müssen.“ Wie wahr…
Eigentlich wollte ich – so kurz vor der Europawahl – „nur“ über die politische Stimmung schreiben: Dazu hatte ich Menschen bereits spontan befragt, ob sie pro Europa oder dagegen sind. Ich wollte wissen: Gehen sie wählen, was bewegt sie? Die Interviews fanden, in Abstimmung mit meiner Redaktion des hyperlokalen Nachrichtenportals Meine Südstadt, im Coffee Fellows mitten in Köln statt. Zu einem Zeitpunkt, wo noch keine/r wusste, dass bald ein Video, heimlich erstellt auf Ibiza, zu einem politischen Beben in Österreich führen und die dortige Regierungskoalition auseinander brechen sollte.
Keiner meiner Gesprächspartner, auch nicht der Österreicher Martin, wusste zum Zeitpunkt unseres Gesprächs, dass ÖVP und FPÖ in Wien bald um eine Übergangsregierung würden ringen müssen. Den braunen Sumpf kannte also niemand. Alle waren guter Stimmung, auch wenn es Sorgen gab. Sorgen, die heute nach Veröffentlichung des Ibiza-Videos, wahrscheinlich größer sind. Denn wenn die erst 26jährige Melanie vor allem deshalb wählen geht, um ein Gegengewicht zu den Rechtsradikalen zu setzen, dann würde sie hinter diesen Satz vermutlich drei Ausrufezeichen setzen: „Der Populismus bereitet mir große Sorge.“
So geht es uns jedenfalls – Sonja und mir, die ja diesen Blog betreiben, um die positiven Seiten des Lebens zu betonen. Wohl wissend, dass es Elend, Hass und eben auch Populismus in dieser Welt gibt. In der Nachbarschaft, in Deutschland, in Europa, und eigentlich überall auf der Welt.
Und genau deshalb bin gerade ich, die zudem ein politisches Vorleben hat, so alarmiert.
Es wäre schön, könnte man die Statements der „Herren“ im Ibiza-Video als männliches Geblähe abtun, als entsetzliche Schwächezeichen vermeintlich erstarkter Politiker, die sich mit klirrenden Cocktails vor scharfen Weibern in Szene setzen. Kennt man ja alles, kann man drüber lästern, oft herzlich lachen. Aber in diesem Fall: Sicher nicht.
Irgendwie wirkt in diesen Videoausschnitten vieles fast inszeniert. Als hätten tatsächlich Kabarettisten Regie geführt. Und alle Szenen kennen wir ja gar nicht, z.B. die, wo der feine Herr nicht nur politisch rum ballert sondern auch seine Ehe – er wurde jüngst erst Vater – in Verruf bringt. Das alles ist nicht nur hochnotpeinlich, es ist verwerflich, politisch und menschlich. Und sicher keine „Singularität“, wie es jetzt deutsche Vertreter rechtsradikaler Strömungen versuchen kleinzureden. Wie krass, dass da jemand, spöttisch lächelnd, überhaupt meint wissen zu können, dass es ein Einzelfall ist. Woher hat dieser Zyniker dieses grandiose Wissen?
Dennoch und gerade deswegen möchte ich die fünf Menschen, die ich interviewt habe, zu Wort kommen lassen. Denn sie stehen – Ibiza hin, Wien her – für ein Bild, das wir in diesen Tagen gut gebrauchen können.
Sie sind PRO Europa. Sie wählen und sie wissen: Es ist wichtig, genau das zu tun. Mitzumachen.
Beginnen möchte ich mit Thomas (63), gebürtig aus Bayern. Thomas lebt seit 1991 in Köln und sieht in Europa „die einzige Chance am Leben zu bleiben“. Und er meint das im wörtlichen Sinne, denn: „Sonst sterben wir ganz einfach.“ Sein Wunsch ist es, dass insbesondere die deutsch-französischen Beziehungen vertieft werden und dass wir uns weniger verstecken. Nicht nur Trump sei „der böse Bube“. Deutschland müsse sich viel stärker noch europäisch einbinden, meint Thomas.
Ein Gegengewicht zu den Rechtsradikalen
Das dürfte die eingangs bereits erwähnte Melanie (26), gebürtig aus Recklinghausen, ähnlich sehen. Sie arbeitet neben ihrem Schauspielstudium als Barista in jenem Café, wo ich meine Interviews führe. Eben weil ihr der Populismus so große Sorgen bereitet, geht sie „auf jeden Fall wählen, um ein Gegengewicht zu den Rechtsradikalen zu setzen“. Zwar könne sie manches Mal schon nachvollziehen, „dass Menschen Hass empfinden“, denn es sei eine Unsicherheit entstanden. Genau deshalb brauche man jedoch Europa:
„Gemeinsam können wir es besser schaffen“.
Auch Joanna, die Juristin, die sowohl bei der Oma in Griechenland als auch in Hessen aufwuchs, spricht die USA an, wenn es um Europa geht. Sie sagt klar: „Die Europäischen Staaten müssen sich zusammen tun in Anbetracht von China oder den USA um zu bestehen.“ Seit ihrer Studentenzeit lebt Joanna, heute in den Vierzigern, in Köln und schätzt die große Identität, die durch Europa geschaffen wurde. „Ich finde mich in der bunten, fein ziselierten Vielfalt gut wieder“, lacht sie und deutet auf das geometrische Tapetenmuster hinter mir. Fein verwoben, das gefällt ihr, es hat Struktur.
Im Klimaschutz muss mehr passieren
Janina (24) ist übrigens die Einzige, die Europa auch deshalb wichtig findet, um das Thema Klimaschutz voranzubringen. Die anderen haben es vielleicht auch im Sinn, sie stellen jedoch andere Themen davor. Nicht so Janina, die sich als „nicht krass politisch“ bezeichnet, Europa jedoch als „ausschlaggebend für mich und irgendwann auch meine Kinder“ sieht. Und deshalb geht es ihr in Sachen Klimaschutz viel zu langsam. Ihre Hoffnung: Die EU könne zusammen mehr tun als jedes Land alleine.
In Anbetracht der aktuellen Lage in Österreich sind die Statements von Martin, der beruflich zwischen Brüssel (seinem Arbeitsort) und Köln (seinem Wohnsitz) pendelt, besonders spannend. Sieht der Politikberater doch in der EU den Vorteil, „mich nicht allein auf meine direkte Regierung im Land verlassen zu müssen“. Wie wahr, gerade in diesen Zeiten! Martin ist auch deshalb ein politischer Mensch, weil er nahe des „Eisernen Vorhangs“, in Niederösterreich, aufgewachsen ist. Er hat die Wende von 1989 bewusst erlebt. Heute macht ihm vor allem das große Sorge: die „Methode der ständigen Grenzüberschreitung“, wonach viele Politiker heute verführen, denn „irgendwann akzeptieren die Leute das.“
Martin weiß, wovon er spricht. Denn Martin arbeitet als Lobbyist in Brüssel und erklärt mir als Erstes, dass Leute wie er keine finsteren Gestalten seien. Politiker bräuchten zu den vielen Expertenthemen schlicht gute Beratung. Dass da dann auch andere Überzeugungstäter am Werk sind, brauche ich nicht zu betonen, aber das ist ja auch ein anderes Thema. Jedenfalls ist Martin ein überzeugter Europäer, schon aus Jugendzeiten.
Solche Menschen, die in Europa eine Chance sehen, die machen uns Hoffnung. Denn Sonja hat bereits sieben Enkelkinder, ich einen noch kleinen Jungen – sie alle sollen in einer Welt groß werden, in der die Menschen die großen Herausforderungen stemmen und nicht in Konfrontation sondern in einer guten Zusammenarbeit leben.
Wir teilen unsere Welt nicht so auf, wie österreichische Politiker es versuchen: Die kriegt die Presse, der eins auf die Fr….
Ich bedanke mich bei allen meinen Gesprächspartnern für die Zeit, die sie sich für das Europa-Gespräch genommen haben. Und wie immer schließen wir mit einer positiven Message:
Die Staatsaffäre in Österreich ist für uns auch ein Zeichen dafür, dass Medien tatsächlich etwas aufdecken können. Ja, die Hintergründe, wie dieses Video zustande kam, sind mit Sicherheit ebenso aufzuklären. Doch der Inhalt dessen, was da an brutalem, selbstherrlichem Gedankengut zum Vorschein kam, rechtfertigt für uns das hohe Gut der Pressefreiheit. Und wir danken jenen, die jetzt mit Sicherheit viel Courage benötigen, diesen Sumpf trockenzulegen…
Fotos: Sascha Fritz (Pixabay), Elke Tonscheidt
Hier könnt Ihr lesen, wie SPIEGELONLINE es begründet, das Video veröffentlicht zu haben