„Wo jeder Einzelne kommen kann, da sein kann, fragen kann, mit tun kann…!“
Irgendwann werden Maschinen sich mittels Künstlicher Intelligenz so rasant selbst verbessern, dass die Zukunft des Menschen danach nicht mehr vorhersehbar ist. Dieser Moment, in dem Mensch und Maschine verschmelzen, das ist die: „Singularität“! – Und das ist natürlich ein Thema für den Deutschen Evangelischen Kirchentag. Unser heutiger Gastautor, Martin Reents, war vor Ort in Dortmund.
Das Opernhaus war mit 1.200 Teilnehmern bis auf den letzten Platz besetzt, und draußen wartete eine lange Schlange, ob vielleicht doch noch ein Platz frei würde. Es sprach der Vorsitzende des Ethikrats, Prof. Dr. Peter Dabrock. Wer denn schon mal was von CRISPR/Cas gehört habe? Zwei Drittel der Teilnehmer hoben die Hände.
Man war sich einig: Hände weg vom Gene Editing!
Der Mensch sei nicht perfekt, und so solle es auch bleiben! Das nicht-perfekt-Sein würde den Menschen doch gerade erst ausmachen!
Gleichzeitig beschäftigte sich das experimentelle Musiktheater „Nova – Imperfecting Perfection“ im Orchesterzentrum damit, wie die Androidin Nova dieses „nicht-perfekt-Sein“ lernen könnte. Ein Sopran, zwei virtuelle Sänger, eine Bratsche, Videoprojektionen auf drei Leinwänden, Lichteffekte und Live Elektronik ließen eine zutiefst verstörende Welt vor unseren Augen und Ohren entstehen. Am Ende scheiterte die sympathische Maschine Nova am Versuch nicht perfekt zu sein. Sie, die künstliche Intelligenz, beging Selbstmord. Damit war der Versuchsaufbau „Nova #374“ beendet. Aber schon wurde „Nova #375“ heruntergeladen und von neuem begann die Androidin ihre Trainingszyklen…
Das war verstörend, und das musste man auch erst mal verarbeiten. Viel Zeit war nicht. Ich hatte noch eine Bibelarbeit mit Armin Laschet zu verarbeiten, die direkt davor stattgefunden hatte. Dem Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen hatte man Hiob vorgegeben: Hiob, das war der, der alles richtig gemacht hatte, der ein „Gerechter“ war, und der dann trotzdem erst sein Vermögen verlor, dann seine Kinder, dann seine Gesundheit. „Wie kann ein gerechter Gott das zulassen?“ fragte Laschet. Und dann kam er auf heute: Wie konnte Gott es zulassen, dass der Kurde Mehmet hier in Dortmund ermordet wurde, und dass der Staat dann jahrelang im falschen Umfeld ermittelte? Dass er den rechtsradikalen Hintergrund nicht erkannte? Wie konnte der Staat da die Augen verschließen? Wie konnte Gott das zulassen? Laschet gab keine Antwort. Er wollte uns keine Meinung verkaufen. Nicht hier. Nein, er rang: Mit der Frage, mit sich, mit dem Publikum.
Kirchentag ist auch Werkstatt: Hier entsteht Politik, in einem ehrlichen, offenen Ringen.
Ich stieg in den Fahrstuhl der „Bank für Kredit und Diakonie“ und fuhr in den sechsten Stock. Dorthin hatte die Arbeitsgemeinschaft Evangelischer Unternehmer eingeladen. Etwas verspätet platzte ich mitten in den Vortrag, den ein Mitglieds aus dem „Digitalrat der Bundesregierung“ hielt. Man müsste jetzt mal von der „klassischen Wasserfall-Entwicklung“ auf „Lean Startup-Methoden“ umstellen, sagte er. Das fand Beifall unter den Anzugträgern. Das und ein regulierter Umgang mit personenbezogenen Daten, nickte sich das korporierte Deutschland zu. Das sei der Schlüssel für die Zukunft. Ich fand das altbacken. Klar war „agile Entwicklung“ mal neu gewesen und ein Wettbewerbsvorteil – vor 15 Jahren. „Als Startup suchen wir immer nach neuen Quellen für Innovation,“ sagte ich, und:
„Die wichtigste ist heute ‚Diversity‘!“
Wir, ein Startup, würden vor allem nach Ausländern mit anregendem kulturellen Hintergrund suchen, nach den LGBTQI-Typen, nach schrägen Vögeln… Aus der bunten Mischung käme die Innovation! Da hieß es dann „hört, hört!“ von den Schlipsträgern und bei bester, westfälischer Kartoffelsuppe mit Mettwürstchen diskutierten wir kräftig weiter. Da war mal was los in der Bude, und das war auch gut so, dachte ich. Amin Laschet hatte das morgens so gesagt: „Es gibt keinen Ort in Deutschland, und keine Veranstaltung in diesem Jahr in welcher der Austausch so möglich ist wie auf diesem Kirchentag.“
Anschließend eilte ich zum Barcamp „Kirche Digital“ im Reinoldium, um nach vielen Jahren meinen alten Freund und Kollegen Klaus Motoki Tonn wieder zu treffen. Wir kannten uns aus der deutschen Startup-Frühzeit. „Was würde passieren,“ meinte Motoki, der inzwischen für die Landeskirche Hannover arbeitete, „wenn Rezo über ‚die Zerstörung der Kirche‘ youtuben würde?“ Schräger Gedanke. Es brauchte erst einen Kirchentag, dachte ich, dass wir mal über sowas reden.
Nach Motokis Impulsvortrag ging ich noch einmal ins Opernhaus. Extra für den Kirchentag wurde die Oper „Echnaton“ eingespielt, die Philip Glass 1984 komponiert hatte. Das war keine leichte Kost. Den Abendsegen, der üblicherweise um 22 Uhr an vielen Veranstaltungsorten erteilt wurde, verpasste ich. Dafür zog ich mit unseren Miesbacher Pfarrern in ein „Late Night-Kabarett“, in dem sich die Veranstalter zur Abrundung des Tages gegenseitig selbst auf den Arm nahmen.
Während die auf der Bühne Quatsch machten, musste ich ein letztes Mal an die Bibelarbeit am Morgen denken: „Es gibt viele große Events und Veranstaltungen,“ hatte Armin Laschet da gesagt, „aber keinen Ort, wo jeder hingehen kann, wo jeder eine Frage stellen kann, wo man dem anderen gegenübersitzt, ihn sieht, eine Frage stellt, eine Antwort bekommt. Anderswo bleibt man in seiner Filterblase. Aber dass jeder einzelne Mensch kommen kann, da sein kann, fragen kann, mittun kann – das gibt’s in diesem Jahr nur auf diesem Kirchentag!“
Alle Infos über den Deutschen Evangelischen Kirchentag 2019
Text und Fotos: Martin Reents
Kommentare
„Wo jeder Einzelne kommen kann, da sein kann, fragen kann, mit tun kann…!“ — Keine Kommentare
HTML tags allowed in your comment: <a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <s> <strike> <strong>