So tanken Introvertierte in Corona-Zeiten Selbstbewusstsein
Wie gehen introvertierte Menschen mit einem Lockdown um? Elke und Sonja als reichlich Extrovertierte können sich das schlecht vorstellen. Aber Jennifer Häuser, die den Blog Wanderlust Introvert betreibt, weiß, wovon sie spricht. Sie sagt von sich selbst: „Ich bin introvertiert und stehe dazu, außerdem bin ich gerne unterwegs.“ Für ohfamoos hat Jennifer einen Gastbeitrag geschrieben, über den wir uns sehr freuen.
Das Jahr 2020 steht unter einem Stern namens Corona, doch was kommt eigentlich danach? Auch wenn wir nicht wissen, wann genau diese Zeit vorbei ist und somit auch nicht, wie stark wir die Folgen spüren werden, gibt es doch auch jetzt schon einige Veränderungen zu beobachten. Einen neuen Trend zum Homeoffice beispielsweise oder mehr Rücksicht im öffentlichen Raum.
Was jedoch an einigen Menschen vorbeigehen wird, weil sie es nicht sehen oder erleben, ist der Effekt, den diese „neue Welt“ auf die Introvertierten hat. Wir Intros bekamen zu Beginn der Pandemie etwas mehr Aufmerksamkeit als sonst, immerhin schienen wir für einen Lockdown besser gewappnet zu sein. Doch wo stehen wir jetzt? Kann es sogar sein, dass Introvertierte die Gewinner (wenn man es denn so nennen darf) der Krise werden?
Introversion in Zeiten der vielen Maßnahmen
Introvertierte Menschen genießen ruhige Momente und Zeit für sich. Gleichzeitig dient diese Zeit als Ausgleich, um sich davon zu erholen, dass wir unter Menschen eher Energie verlieren. Der Fokus liegt auf dem Inneren – Gedanken, Gefühle, Reaktionen. Das ist natürlich nicht die wissenschaftlich perfekte Antwort, doch es reicht, um zu zeigen: Zurückhaltung ist für uns kein Schimpfwort.
Somit sind ein temporärer Lockdown, Abstand, Rücksicht und weniger Menschenmassen eigentlich nicht nur kein Problem für uns, wir genießen das sogar auf gewisse Art. Klar, auch wir vermissen Freunde und Familie, auch wir wünschen uns wieder etwas mehr Normalität. Doch während zu Beginn der Pandemie einige Extrovertierte bereits die Wände hochgingen und jedes klein Fitzelchen Sozialinteraktion umklammerten wie ihren ganz eigenen Schatz, dachten viele Introvertierten sich öfter mal: Hm, eigentlich gar nicht mal so schlecht, wie es jetzt läuft.
Was ist damit gemeint? Nun ja, Introvertierte sind in der westlichen Gesellschaft nicht gerade das Idealbild. Wir denken erst und reden dann. Gehen auf Nummer sicher, anstatt einfach loszulegen. Machen keine große Show um uns selbst. Sammeln Freunde nicht wie Pokémon Karten. Dadurch hören wir immer wieder: Sei doch nicht so! Geh mal mehr aus dir heraus! Ach, du bist nur schüchtern! Das ist doch nicht normal! Du kannst so nicht leben! Ich wette, du bist unglücklich!
Die Regeln bestimmen meist die Extrovertierten. Viele Freunde? Gut. Fake it till you make it? Besser. Partys? Das Beste. Damit können sich Introvertierte nicht identifizieren. Wir rechtfertigen uns also und müssen mit ständiger aktiver oder unterschwelliger Kritik unserer extrovertierten Mitmenschen klarkommen. Und glauben vielleicht sogar, sie hätten Recht und zwingen uns dann, so zu tun, als hätten wir Spaß an Dingen, die uns nicht glücklich machen.
Corona Selbstbewusstsein: Was ist das?
Es ist recht einfach, zu glauben, dass Extrovertierte glücklicher und zufriedener sind. So geben sie sich ja auch. Aber sie sind nicht perfekt, oh nein, so gar nicht. Etwas, was wir erst wirklich gesehen haben, als die Welt plötzlich nicht mehr nach ihren Regeln funktionierte.
Denn wir Intros waren vorbereitet auf die Zeit „alleine“. Wir können mit unseren Gedanken alleine sein. Wir haben kein Problem damit, unsere Freunde einzeln zu treffen. Alleine ist für uns kein Schimpfwort. Wenn unsere Sozialkontakte verringert werden, verlieren wir dadurch nicht unsere Identität.
Für jeden von uns Introvertierten, der sich von Extrovertierten bedrängen und beeinflussen ließ, ging es runter wie Öl, dass wir plötzlich sagen konnten: Habt euch mal nicht so! Bleib doch mal zu Hause! Sei mit deinen Gedanken alleine! Ständig sozial zu sein, das ist doch nicht normal! Wenn du ohne deine Sozialkontakte nicht klarkommst, bist du überhaupt glücklich?
Ja, eine maßlose Übertreibung. Denn wir lieben unsere Sozialkontakte, wir wollen auch, dass Clubs und Bars und Co. wieder öffnen können. Aber ein wenig Gehässigkeit kam uns eben doch über die Lippen oder zumindest durch die stillen Synapsen. Daraus lässt sich hervorragend Selbstbewusstsein züchten.
Denn Corona zeigt uns Introvertierten, dass unsere Fähigkeiten durchaus nützlich sind. Wir sind wichtig für unsere Familien, für unsere Freunde, für die Gesellschaft.
Wir sind nicht nur wichtig, wir sind in bestimmten Bereichen einfach besser vorbereitet.
Wenn es um Beliebtheitswettbewerbe geht, holen wir selten die Poleposition, doch wenn es um Ruhe, Reflexion und Eigenständigkeit geht, dann sind wir im Vorteil. Etwas, was uns bisher nicht so häufig passierte wie jetzt in Corona-Zeiten.
Hoffentlich schaffen wir es, dieses Selbstbewusstsein zu behalten. Damit wir auch nach dieser ganzen verrückten Phase sagen können: Hey, weißt du was, so wie ich bin, das ist genau richtig. Ich brauche keine Partys, viele Freunde oder Aufmerksamkeit, ich bin gerne etwas ruhiger und ich nutze meine Fähigkeiten auf andere Art.
Dass die Welt lange immer schneller wurde und nun einen Gang zurückschalten musste, sollte uns daran erinnern, dass auch wir nicht immer mit dem hohen Tempo mithalten müssen, das uns vermeintlich vorgegeben wird. Wir sagen ganz selbstbewusst: Introvertiert und stolz drauf.
Jennifer Häuser ist als freiberufliche Texterin unterwegs und schreibt ganz nebenbei aus Leidenschaft einen Blog für Introvertierte. Auf Wanderlust Introvert schafft sie den Anlaufpunkt, den sie früher als junger Mensch selbst gebraucht hätte. Wenn sie gerade nicht in die Tasten haut, benötigt sie Natur und Tiere um sich herum, um sich wohlzufühlen und in dieser verrückten Welt zu bestehen.
Fotos: Jennifer Häuser und Pixabay
Intros sind ideal für « Suffizienz » .
Intelligent verzichten!
Sich auf das Gute der Situation besinnen.Es annehmen und ruhig und gelassen bleiben.Dann geht es uns doch gut.Ein bisschen mehr Demut schadet uns nicht.