Je suis – ja wer eigentlich?
Dieses Wochenende werden auch wir Deutschen leider lange nicht vergessen. Wir reihen uns bewusst nicht ein in all die Kommentare, die mittlerweile über den Terror in Paris publiziert wurden. Vieles ist gesagt, geschrieben. Jeder hat es auf seine Art und Weise eingeordnet, wenn möglich verarbeitet. Viele haben dafür eine App genutzt, um sich bei Facebook mit Hilfe der französischen Flagge solidarisch zu zeigen. Ein paar Klicks und das Profilfoto leuchtet blau-weiß-rot. Gehörst Du auch dazu?
Wir bei ohfamoos haben es, übrigens unabgesprochen, für unsere Profilbilder nicht genutzt. Dafür haben wir das blau-weiß-rot strahlende Sydney Opera House gepostet. Unsere Art uns auszudrücken. Melanie lebt ja in Australien. Und Sonja mailt uns Samstagmorgen: „Ich habe den ganzen Schrecken gestern Nacht bis um 2 Uhr im Fernsehen verfolgt. Ich bin fassungslos. So viel Leid, so viel Wahnsinn. Habe auf Twitter bei Ohfamoos Notfallnummern gepostet und die sicheren Orte #porteouverte.“
Was wir alle ebenfalls gesehen haben: Diese „Welle von Blau-Weiß-Roten Profilbildern auf Facebook“, wie es eine unserer Leserinnen ausdrückt. Tanja Deuß war, wie Du vielleicht auch, neugierig und hat auf diesen Button geklickt, der unter den Bildern zu sehen ist. Und weil „es jetzt mal raus muss“, schreibt die Fotografin:
„Mich erwartet eine App, die mein Profilbild entweder unbegrenzt oder temporär mit der französischen Flagge überzieht. Und ich denke mir: was für ein Schwachsinn. Temporär. Ja, das ist so simpel. Denn schließlich muss der gemeine Facebook-User ja nach Änderung seines Profilbildes und der gezeigten Betroffenheit nach einem bestimmten Zeitraum auch wieder zur Normalität zurück kehren. Wie clever. Und wie schlecht. Ich darf wählen zwischen 1 Tag und 1 Woche. Ich überlege, wie lange der User Betroffenheit offen zeigen möchte. Im Grunde reicht ja ein Tag. Oder? Denn danach ist alles nicht mehr so schlimm und die Profilbilder können sich wieder ändern.
Außerdem im Angebot sind amerikanische Sportflaggen aller Art. Ich muss nochmals kurz mit dem Kopf schütteln. Tolle Suppe. Gut gemacht, du App-Anbieter.“
Tanja weiß, dass die Menschen, die diese App benutzen, es mit Sicherheit nur gut meinen und Solidarität bekunden wollen. Fragt sich jedoch auch, was das genau soll. Schließlich waren schon Anfang des Jahres alle plötzlich „Je suis Charlie“. Ihr Post endet deshalb mit: „Je suis Tanja.“ Und sie drückt ihre Dankbarkeit für jeden aus, „der diese Flagge gerade nicht wie ein Lemming in seiner Timeline postet.“
Die sich daraufhin entladene Kommentarflut wollen wir hier bewusst nicht wiedergeben. Aber ein Dialog gefällt uns so sehr, dass wir ihn mit Euch teilen wollen – mit Einverständnis der beiden natürlich, die sich bis gestern noch nicht einmal kannten.
Stephan W. „Je suis Charlie“. Die Süddeutsche Zeitung merkt an: „Der Dreiwortsatz […] meint: ‚Ich protestiere gegen die Gewalt als Antwort auf Karikaturen‘. ‚Ich bin mit gemeint, wenn das Recht auf freie Meinungsäußerung angegriffen wird.‘“ So wurde „Je suis Charlie“ zum „Symbol für die bedrohte Öffentlichkeit und die demokratisch-rechtsstaatliche Ordnung insgesamt.“ (aus Wikipedia) „Je suis Charlie“ bedeutet keineswegs, dass Tanja nicht mehr Tanja ist…
Tanja D. Das stimmt. Nur ist meine Meinung, dass zu viele Menschen sich dahinter versteckt haben. Und leider sind sich viele Menschen auch nicht ihrer Kraft bewusst. Selbst, wenn es nur im „Kleinen“ ist. Eine Gemeinschaft zu sein und Solidarität zu zeigen ist eins. Und gut. Aber danach muss man auch selbst Courage haben.
Was mich besonders stört war eben dieses „temporär“. Es hat so viel ausgedrückt. Da steckte für mich in diesem Fall so viel hinter. Kannst du das nachvollziehen? Hm … wie gesagt, es musste raus.
Stephan W. Da bin ich bei dir. Mit dem Posten von Solidarität-Bildchen ist es nicht getan… Allerdings ist mir momentan nicht ganz klar, wie ich zu dem Thema der Anschläge Courage zeigen kann, die du ansprichst. Eine gewisse Hilflosigkeit.
Tanja D. Das weiß ich auch noch nicht. Eine Form wäre sicherlich die, die eine Freundin gestern gezeigt hat. Sich in Blau-Weiß-Rote Klamotten werfen und tanzen gehen. Zeigen, dass man sich nicht der Angst hingibt. Schwer. Sehr schwer.
Stephan W. Klar, in jedem persönlichen Gespräch… Und weiterhin feiern und frei sein natürlich… Denn ich treffe nie auf Menschen, die hinter diesen Taten stehen oder sie gutheißen. Das ist anders bei anderen Themen (z.B. Flüchtlingsfrage).
Tanja D. Wer weiß schon, ob wir sie nicht treffen?
Das ist ja die Angst, die ich meine.
Stephan W. Das weiß man halt nicht. Genauso, wie wir nicht wissen, ob das Auto, das uns auf der Landstraße entgegen kommt, nicht plötzlich die Spur wechselt. Trotzdem vertrauen wir und sehen nicht in jedem Autofahrer einen Geisterfahrer. Hier sehe ich am ehesten Möglichkeiten Zivilcourage zu zeigen – denn sonst hätten die Terroristen ihr Ziel erreicht.
Vertrauen. Dieses Gefühl kommt schnell abhanden, wenn man Schock-Ereignisse wie an diesem Wochenende erlebt, selbst aus der Ferne. Wir von ohfamoos haben natürlich auch kein Rezept parat, wie man solche Wunden heilen kann. Aber vielleicht bringt Dich der kleine Dialog zum Nachdenken und Reden. So ist es uns ergangen. Und Tanjas Tipp, den sie neben ihrer Kritik auch postet, finden wir nachahmenswert: „Und wenn ich wieder vor die Türe gehe, überlege ich mir, wie ich selbst diese Welt besser machen kann. Mit Nächstenliebe und Freundlichkeit gegenüber denjenigen, die sie brauchen.“
Text: Elke Tonscheidt
Grafik: Tanja Deuß
Profilfotos: Stephan Wiesener und Tanja Deuß
Flagge zeigen, aber wie? Eine gute, wichtige Diskussion hier auf diesem Blog, mit ehrlichen und offenen Meinungsäußerungen. Die sowohl die Haltung jener verdeutlicht, die mit kleinen, einfachen Zeichen wie ihrem Facebook-Profilphoto ein Signal aussenden wollen ins Soziale Netzwerk, als auch das Unverständnis jener anderen, denen das zu billig und einfach erscheint. Ich empfinde für beide Positionen viel Sympathie, und auch dies zeigt meine und unser aller Hilflosigkeit und Suchen nach Antworten. Aber das ist das eigentlich Entscheidende: Mitfühlen und dies zeigen, wie auch immer.
Welch großartiger Beitrag hier, der behutsam das große Ganze thematisiert: Unsere Haltung, den Umgang, die Courage und das Handeln angesichts der Geschehnisse -weltweit im übrigen – die uns im Mark treffen.
Persönlich war ich eine Sekunde in Versuchung, probierte die App aus. Und dachte bei mir genau dies: Und wie lange bliebe ich in dreifarbig? Was ist mit meinem Bekunden für Andere, deren Schicksal mich nicht minder betroffen macht? Den Syrern und Afrikanern, die ich kennenlernte? Es fühlte sich einfach nicht stimmig an für kurze Zeit diese Form des Statements zu wählen. Statt dessen diskutieren wir mit unseren Kindern und Freunden. Sammeln weiterhin sinnvolle Spenden z. B. und sind bemüht, das Empfinden der Ohnmacht umzuwandeln in mehr politische Wachheit. Friedfertigkeit im täglichen Umgang und das Streiten FÜR nicht GEGEN eine Sache.
Jedoch – wenn ich die vielen FB- und Twitter-Bilder sehe, dann freue ich mich auch über die vielen Signale, die Gemeinschaft symbolisieren.
Je suis – human!
Ich fühle mich gerade etwas hilflos und verängstigt den aktuellen Geschehnissen gegenüber, der Menschheit gegenüber, wir Menschen, den Schrecken unseres Daseins gegenüber… Die Anschläge in Paris haben mir die Angst vor Augen geführt, die Bedrohung, wie nah sie ist und wie machtlos wir sind. Auch unsere Regierungen… Und ich bekomme noch mehr Angst, wenn ich von Kampfansagen höre oder lese.
Ich habe meine Profilbilder in den verschiedenen Kanälen bewusst nicht geändert. Dies ist nicht meine Art, mein Mitgefühl auszudrücken. Denn ich hätte dabei das Gefühl, andere Notleidende bei dieser Aktion auszuschließen. Ein Foto von einer Kerze, ein Blogbeitrag mit sprachlosen Worten…
Nach dem Schock besinne ich mich so langsam wieder meiner Kraft, meinen Möglichkeiten, meiner Liebe und meiner Kreativität, meiner Zuversicht…
Wenn jeder seinen machbaren Beitrag leistet, dann sind wir eine Gemeinschaft, dann sind wir stark und voller Liebe.
In diesem Sinne, zuversichtliche Grüße, Doreen
Ich kann sehr gut das momentane Gefühlschaos nachempfinden, das Doreen beschrieben hat, denn es geht mir ähnlich. Viele Fragen, Zweifel, verwirrende Gedanken, und wenige Antworten. Dennoch komme ich im Hinblick auf die Facebook-App bei einer Aussage ins Grübeln. Zitat: „Denn ich hätte dabei das Gefühl, andere Notleidende bei dieser Aktion auszuschließen.“ Hieße dies denn dann in letzter Konsequenz nicht auch, einem einzelnen Hilfsbedürftigen nicht helfen zu wollen, wenn wir allen anderen Hilfsbedürftigen nicht genauso helfen? Einer Bettlerin am Straßenrand deshalb kein Almosen zu geben, weil wir nicht auch allen anderen Bettlern etwas geben? Natürlich war dies nicht als Schlussfolgerung beabsichtigt, das belegen auch alle anderen Aussagen in jenem Kommentar! Denn wir stimmen überein: Jedes Signal von Mitgefühlt ist begrüßenswert und gut, auch wenn es vielleicht selektiv erscheint. Die Form muss jeder individuell entscheiden. Hauptsache, wir stellen uns sichtbar an die Seite der Betroffenen und Notleidenden, sowie entschieden gegen die nun wieder aufschäumende Hetze der Wutbürger.
Dieter, ja, das ist ein guter Punkt. Hier ist für mich wahrscheinlich der Unterschied in der ‚Bewegung‘ der Massen… Aber ich möchte garnicht so viel darüber diskutieren, wie wir Mitgefühl zeigen können. Wichtig ist, dass wir Mitgefühl zeigen und dabei bleiben, uns nicht im Hass verlieren. Ich rede jetzt von wir, weil ich damit zum Ausdruck bringen möchte, dass das wir sind, wir Menschen. Für mich wäre es jetzt zu einfach ‚die anderen‘ zu sagen.
Vielen Dank für Deine Anregung. Ja, ich helfe einzelnen und kann nicht allen helfen. Und wenn wir uns gegenseitig helfen, uns in unserer unmittelbaren Umgebung, dann haben wir viel erreicht.
In diesem Sinne wünsche ich einen kraft- und liebevollen Tag.
Aus ganzem Herzen: Ja, das wünsche ich auch!
Jetzt liegt der Tag dieser Anschläge mehr als zwei Wochen zurück, und ich denke, wir können mit diesem Abstand diese frage noch einmal diskutieren. Ja, ich hatte auch diese blauweißrote Jalousie vor meinem Profilbild, und ich stehe dazu, wie ich auch dazu stehe, mit einer schwarzen Krawatte zu einer Beerdigung zu gehen. Die trägt man ja auch nur „temporär“. Der Zeitraum hängt davon ab, wie nah einem die gestorbene Person stand. Und man muss sich weder für den Umstand rechtfertigen, dass man sie trägt, noch dafür, wie lange man sie trägt. Noch dafür, dass man nicht gleichzeitig um alle anderen Menschen trauert, die durch Gewalteinwirkung, unmenschliche Lebensbedingungen oder eben aus biologischen Gründen gerade sterben oder gestorben sind. Wer das fordert, versteht nichts von Gefühlen. Ich muss mich auch dann nicht für meine Trauerkleidung rechtfertigen, wenn ein beachtlicher Teil derjenigen, die sich in der Kirche, am Grab oder bei einem offiziellen Trauerakt mit Trauerinsignien versammeln, schlicht heuchelt und mit der Krawatte – die Leserinnen mögen ein adäquates Kleidungsstück einsetzen – genau diese Heuchelei verdeckt. Oder es nur tut, „weil sich das eben so gehört“. Es ist ein Zeichen der Ehrerbietung vor dem Leben des/der Toten, wenn man ihm/ihr nicht so nahe gestanden, sie/ihn aber gut gekannt hat.
Die blauweißroten Profile sind eben die Facebook-Krawatten. Im Fall von Paris, einer Stadt, die mein Frankreich- und Freiheitsbild stark geprägt hat, möchte ich nur hier für mich differenziert erklären, dass ich weniger die Fahne (virtuell halbmast) gehisst habe, weil ich um die Opfer trauere, sondern um zu dokumentieren, dass mir die Werte, die diese Fahne repräsentiert, sehr viel bedeuten. Man kann gegen die Französische Revolution viel vorbringen und erntet dafür bei mir wenig Widerspruch. Bestehen bleibt aber, dass sie ein wesentliches Konstituens dieser offenen, freien Gesellschaften war, in denen wir hier jetzt schon seit 70 Jahren ohne Krieg leben dürfen, und dass genau diese Werte in Paris angegriffen wurden. Und jede/r, die/der mich kennt, weiß: Wenn ich diese Fahne hisse, plädiere ich nicht gleichzeitig für Imperialismus (Napoleon), Kolonialismus (späte Könige) oder die Ermordung Tausender durch den Wohlfahrtsausschuss. Übrigens auch nicht dafür, Syrien jetzt mit noch mehr Bomben kaputtzumachen, obwohl ich militärische Aktion dort grundsätzlich nicht für falsch halte. Ähnliches gilt übrigens auch für das Absingen der Marseillaise, ungeachtet martialischer Passagen im Text. Wenn jemand richtig wissen will, wie Freiheitsgefühle gehen und wie unentbehrlich sie für „pursuit of happiness“ sind, soll er sich die einschlägige Passage in „Casablanca“ noch einmal anschauen. Der ganze Film ist ein Gewinn gerade in dieser Zeit.