Perfide Parallelgesellschaften: Eine Jesidin klärt auf
Das neue Buch von Angela Kandt und Irina Badavi „Wenn der Pfau weint“ ist derzeit von großem medialen Interesse. Es schildert die Geschichte eines individuellen Frauenschicksals, und: die perfiden Mechanismen von Parallelgesellschaften, in denen – fernab unserer Grundrechte – Traditionen und strukturelle Gewalt Integration erschweren. Meine Freundin Angela Gatterburg, seit Jahrzehnten für den SPIEGEL unterwegs, hat die Jesidin Irina für uns interviewt.
Bevor Ihr das Interview lest, ein paar Fakten: Die Jesidin Irina Badavi floh mit ihrer Familie Mitte der 90er Jahre von Georgien nach Deutschland. Wenige Monate nach ihrer Ankunft wurde das 16jährige Mädchen von ihrem Vater mit einem ihr unbekannten, wesentlich älteren Mann verheiratet. Nach Jahren täglicher Demütigungen und Vergewaltigungen halfen ihr 2004 Mitarbeiter der Behörden bei der Flucht in ein Frauenhaus.
Heute lebt die 36jährige mit ihren beiden Kindern anonym und fern ihres Clans in einer deutschen Stadt. Sie arbeitet in einem Frauenhaus, u.a. als Traumaberaterin und als Dolmetscherin für geflüchtete Menschen. Schätzungsweise 6000 bis 100000 Jesiden leben heute bei uns. Irini hofft, dass sie, wie andere Religionen auch, ihre frauenverachtenden Traditionen anpassen. Sie kennt einige tolerante Familien unter ihnen und wünscht sich sehr, dass Deutschland diesen Prozess mit ermöglicht und die Bemühungen dieser Menschen wertschätzt.
Irina, warum war es Ihnen wichtig, Ihre Geschichte zu erzählen?
Angst, Gewalt und soziale Isolation haben meine Kindheit in Georgien geprägt. Als ich nach Deutschland kam, wurde es nicht besser oder freier, es wurde sogar zunächst schlimmer. Frauen in der strengen familiären Hierarchie der jesidischen Gemeinschaft um mich herum waren ganz unten. Kaum eine wagte es, gegen die Macht des Vaters, des Ehemannes oder anderer männlicher Clanmitglieder aufzubegehren. Ich habe es gewagt, weil ich für mich und meine Kinder keine Alternative sah. Mit diesem Buch mache ich allen Frauen, die in familiärer Gewalt und Isolation gefangen sind, Mut sich zu wehren. Ich sage ihnen: So wie mir hier von Menschen in diesem Land geholfen wurde, kann auch euch geholfen werden. Und: Auch Ihr könnt Euch ein eigenes Leben aufbauen.
Parallelgesellschaft ist mittlerweile ein viel benutztes Schlagwort geworden. Wie haben Sie dies erlebt?
Vor allem durch Abschottung nach außen: mir wurde verboten, die deutsche Sprache zu lernen oder mit Deutschen Kontakt aufzunehmen. Meine Kinder durften keine anderen deutschen Kinder nach Hause einladen. Ich durfte in besonders schwierigen Zeiten nicht einmal allein das Haus verlassen. Der gesamte Clan war nur unter sich. Steuern versuchte man zu vermeiden, Staatsgeld wie Sozialhilfe nahm man gern. Bei Problemen wurde der Scheich geholt. Als ich mit meinen Kindern in ein Frauenhaus geflüchtet bin, hat die Familie meines Ex-Mannes sich mit dem Scheich auf den Weg zu meinem Vater nach Georgien gemacht. Danach lautete die unverhohlene Drohung: Falls ich nicht zurückkehren würde, würde man mich umbringen.
Sie machen sehr deutlich, dass es Ihnen nicht um eine Generalanklage gegen die Jesiden geht. Warum ist Aufklärung so wichtig?
Weil ich auf keinen Fall latentem Rassismus in die Hände spielen möchte! In Deutschland haben die Glaubensgemeinschaften das grundgesetzlich verbürgte Recht, ihren Glauben zu leben. Das ist großartig. Besonders auch für die Jesiden. Im Nahen Osten waren sie fast immer mit Anfeindungen Andersgläubiger konfrontiert. Hier haben sie den Staat auf ihrer Seite und die Chance, ihren Glauben unbehelligt zu leben. Nur: Das Grundgesetz sieht auch die Gleichberechtigung von Männern und Frauen vor. Dies ist für viele Jesiden ein Problem. Ihr häufig aus den Herkunftsländern mitgebrachtes Denken, dass Männer über Frauen herrschen dürfen oder sogar müssen, kollidiert mit diesen Gesetzen.
Für die Jesiden gilt es, die frauenverachtenden Traditionen aufzugeben.
Das ist möglich und es gibt durchaus bereits tolerante Familien, wo Frauen studieren und einem Beruf nachgehen.
Ihnen ist kein Einzelschicksal passiert. Immer wieder lesen wir von Jesidinnen in Deutschland, die zwangsverheiratet oder auch ermordet wurden, weil sie sich widersetzt haben. Sie erklären, das alles habe nichts mit der Religion zu tun. Womit stattdessen?
Die Religion ist tatsächlich das eine. Wird sie benutzt, um Frauen zu unterdrücken, ist das nicht tolerierbar. Das in der vorigen Antwort bereits erwähnte Denken und die patriarchalischen Machtstrukturen innerhalb der Familien sind nach meiner Erfahrung für die Bevormundung und Entrechtung der Frauen verantwortlich. Nicht die Religion an sich.
Was könnten deutsche Institutionen tun, um zu verhindern, dass sich immer weiter Parallelgesellschaften bilden – besonders zum Nachteil der Frauen?
Da sich Parallelgesellschaften vor allem dort bilden, wo sehr viele Jesiden zusammenleben, sollten die Institutionen darauf achten, dass sich geflüchtete Familien nicht dort ansiedeln, wo es schon Clanmitglieder gibt. Das gilt übrigens nicht nur für Jesiden, sondern auch für andere restriktiv gelebte Glaubensrichtungen. Weiter sollte der Staat Integrationskurse und Sprachkurse, auch den frühen Besuch der Kindergärten von Anfang an verpflichtend machen. Das holt die Frauen aus der erzwungenen Isolation. Sprache kann der Schlüssel zu einem selbstbestimmten Leben sein, vor allem für Frauen.
Welche juristischen Hilfen sind notwendig?
Die ellenlange Kette meiner eigenen Prozesse vor allem zum Sorgerecht für meine Kinder und zum Besuchsrecht für den Vater haben bei mir Bitternis hinterlassen: Ich habe den Eindruck gewonnen, dass es den Gerichten nicht um das Kindes-, sondern um das Vaterwohl ging. Trotz wortgewaltiger Ausbrüche vor Gericht, öffentlichen Drohungen mir gegenüber und zweier Mordversuche, trotz einer versuchten Kindesentführung hat das Gericht immer wieder die Bedeutung der Vater-Kind-Beziehung in den Mittelpunkt gestellt. Es darf nicht sein, dass Gerichte Angst vor der Macht der Clans haben.
Welche Schicksale erleben Sie in Ihrer eigenen Arbeit und wie können Sie helfen?
Im Frauenhaus gab es neben deutschen bereits seit vielen Jahren auch Frauen mit Migrationshintergrund und seit 2015 zunehmend auch Frauen aus den Unterkünften für Geflüchtete. Diese vor dem Krieg geflüchteten Frauen fliehen meistens vor der Gewalt ihrer Ehemänner oder Väter zu uns. Es gibt auch junge Mädchen, 14jährige, die von Zwangsheirat bedroht sind. Da wir im Frauenhaus nur volljährige Frauen aufnehmen, werden diese Minderjährigen in kommunalen Mädchenhäusern betreut. Ich versuche in meiner Arbeit den Frauen die Angst davor zu nehmen, ein eigenes unabhängiges Leben zu führen. Viele Frauen aus traditionellen Großfamilien wollen zuweilen lieber zurück zu ihrem prügelnden Ehemann, weil die Furcht vor dem Alleinsein größer ist. Ich weise sie auf Unterstützungen hin, die ihnen gewährt werden können und ermutige sie, die Sprache zu lernen. Ich zeige ihnen, dass sie nicht allein sein werden, sondern sehr viel Hilfe bekommen, auch menschliche.
Glauben Sie an eine Modernisierung innerhalb der Jesiden?
Ich hoffe sehr, dass es nicht nur die Jesiden schaffen, sondern dass es allen in dieses Land eingewanderten oder hierher geflohenen Menschen gelingt, die religiösen Traditionen in Einklang zu bringen mit denen im Grundgesetz festgeschriebenen Werten. Denn das Jesidentum ist eigentlich eine sehr schöne Religion. Ich mag auch die Feste und die Kultur. Aber manche Traditionen stehen individueller Entfaltung entgegen oder sind einfach frauenverachtend. Zum Beispiel die Heiratsvorschriften:
Jesiden dürfen nur Jesiden heiraten, außerdem nur innerhalb ihrer drei Kasten. Verliebt sich eine junge Jesidin in einen Andersgläubigen, wird sie ausgeschlossen aus der Gemeinschaft. Das ist noch die harmloseste Variante.
Es ist vorgekommen, dass sie umgebracht wurden. Hier in Deutschland. Sogenannte Ehrenmorde gibt es, wie vielfach gemutmaßt wird, nicht nur im Islam, sondern auch in anderen restriktiven Glaubensgemeinschaften.
Das Interview führte die in München lebende Journalistin Angela Gatterburg. Sie kennt ihre Hamburger Kollegin Angela Kandt seit 30 Jahren. Kandt, die zusammen mit Irina Badavi das Ende Oktober erschienene Buch schrieb, lebte mit ihrer Familie u.a. in Beirut (Libanon), von wo aus sie für deutschsprachige Medien, Radiosender und Presseagenturen arbeitete. Diese Zeit und viele Reisen in die Region haben sie nachhaltig mit dem Nahen Osten und seinen Menschen verbunden.
Spiegel Online hat Irinia dieses Porträt gewidmet.
Fotos: Verlagsgruppe Random House