Barrierefreiheit – Zeit für einen Perspektivwechsel
In einer Gesellschaft gibt es viele unterschiedliche Themen, die die Menschen bewegen. Ein Thema, das immer stärker in den Vordergrund rückt und Beachtung bei städteplanerischen Projekten findet, ist das Thema Barrierefreiheit. Mit Frank F. König, der an MS erkrankt ist, ist Heike Lachnit, unsere Gastautorin, schon mehrere Male in ihrer Heimat Limburg spazieren gewesen, um die Stadt unter diesem besonderen Aspekt zu entdecken. Bei Heike hat dies bewirkt, dass sie darauf schaut, ob ein Museum oder eine Örtlichkeit barrierefrei zugänglich ist. Frank F. König hat es geschafft, dass Heike ihren Blick zum Teil geändert hat. Doch dies ist nicht immer leicht, wie er ihr im Interview verrät.
Wie ist es bei dir Frank? Du bist mitten aus dem Leben gerissen worden. Kam bei dir direkt der neue Blick oder erst mit der Zeit?
Frank F. König: Ich hatte einen faktischen Vorteil, da zu meinem Freundeskreis ein querschnittsgelähmter Rollstuhlfahrer gehörte, mit dem ich gemeinsam Sport betrieben habe – ich als Fußgänger und er als Rollstuhlfahrer. Wir haben uns zweimal die Woche gesehen. Die Problematik, die ein Leben mit einer eingeschränkten Mobilität mit sich bringt, war mir schon ersichtlich. Es ist natürlich eine andere Sache, wenn man dann plötzlich neben ihm auf Augenhöhe fährt. Dann verschieben sich Perspektiven.
Es ist eine Seite, zu sagen, ich arrangiere mich mit mir selbst, nehme es so hin. Es ist etwas anderes, sich zu engagieren, mit dem Finger drauf zu zeigen, sich für mehr Barrierefreiheit einzusetzen. Wo war für dich der Punkt, dich zu engagieren und dich einzubringen?
Das hat was mit meiner Entwicklung als MS-Kranker zu tun, mit meiner veränderten Mobilität und mit dem Blick darauf. Das erste Jahr nach Rollstuhlpflichtigkeit bin ich in einen Tunnel gefallen und habe einen Tritt von der Familie gebraucht, um da rauszukommen. Dann habe ich angefangen, mich über Selbsthilfearbeit zu engagieren und bin tiefer in die Thematik eingetaucht bis zum heutigen Tag als Stadtverordneter mit besonderem Themenauftrag, weil Stadtentwicklung, Wirtschaft und Verkehr jede Menge Schnittstellen haben.
Bei mir hat eine Begegnung gereicht, meinen Blick zu wandeln. Dabei hast du mir gezeigt, dass es nicht nur um den Rollstuhlfahrer geht, sondern auch um die Älteren, die in der Bewegung eingeschränkt sind oder die Mutter mit dem Kinderwagen. Bei anderen hat man das Gefühl, sie sind resistent. Was glaubst du, woran es liegt, dass anderen das Umdenken so schwerfällt?
Ich bezeichne das mit dem Wort Alltagschallenge. Jeder ist in seinem Alltag so eingebunden, dass wenig Raum und Zeit bleibt für den Blick des anderen. Nur wenige schaffen es, einen Moment innezuhalten und die Perspektive zu wechseln.
Macht es nicht einen Unterschied, ob ich den Hausbewohner habe, der seine Mülltonne auf die Straße stellt und sich keine Gedanken macht, ob diese jemanden behindert oder ob ich den Kommunalpolitiker habe, der die Perspektive aller Bürger einnehmen soll bei den Entscheidungen? Da finde ich es schwierig zu sagen, die befinden sich in ihrem Alltag und denken nicht darüber hinaus.
Die Problematik in dem Bereich ist recht einfach erklärt. Die schwerste Aufgabe mit einer Behinderung ist es, den Blick zu haben und zu schärfen, zu behalten und zu trainieren für den anderen. Meine Behinderung und eingeschränkte Mobilität spielen meist eine untergeordnete Rolle, da ich mich meist in der Perspektive der anderen befinde. Da gibt es andere Alltagsprobleme. Und da ich ein Familienmensch bin, ist mir der Blick für andere nicht unfremd. Der Blick für den Bürger, der Bürger selbst ist für mich das oberste von allem. Die Gesellschaft ist vielschichtig – mit Rädern und ohne, sehend oder nicht, hörend oder nicht und viele mehr. Mir ist es bei meiner Arbeit wichtig, dass am Ende das Ergebnis ein Design for all ist.
Dieses Verständnis, welches du hast, sollte eigentlich bei jedem, zumindest politisch engagierten erwartet werden.
Das ist ein wenig wie mit der Achtsamkeit gegenüber dem anderen – die schnell weggeworfene Tüte, der Kaffeebecher, der ausgespuckte Kaugummi – wir haben in jeder Stadt überall Mülleimer mit wenigen Schritten zu erreichen. Und dennoch wird vieles achtsam fallen gelassen. Das sind Fragen, die mich beschäftigen. Da gibt es eine interessante Studie aus Baden-Württemberg. Man erzielte eine 30prozentige Verbesserung um den Mülleimer, indem vor dem Mülleimer drei farbige Fußabdrücke zum Eimer hin auf den Boden geklebt wurden. Es wurde der Weg zum Mülleimer aufgezeigt und es gab weniger Müll im Umland.
Wenn jemand an Barrierefreiheit denkt, werden immer große Umbaumaßnahmen gesehen wie niedere Bordsteine. Wenn wir beide zusammen unterwegs waren, hast du mir gezeigt, dass manchmal eine bessere Beschilderung ausreicht, um eine Verbesserung herbeizuführen z.B. an Baustellen. Wo vermutest du da die Probleme, dass da scheinbar noch immer eine gewisse Ignoranz besteht?
Die meisten Leute bewegen sich in ihrem heimischen Umfeld und trainieren sich dies an. Wenn sich jemand in seinem Umfeld nicht orientieren kann, verbringt er unnötige Lebenszeit, um an sein Ziel zu kommen. Daher ist Orientierung, egal in welchem Alter, ob mit oder ohne Einschränkung, sehr wichtig ist.
Auch ich muss zugeben, dass mein Leben ein Lernprozess war und das Verständnis für vieles habe ich auch erst lernen müssen. Der Weg ist das Ziel und der Weg muss frei sein.
Du sitzt hier den Kommunalpolitikern vor der Nase. Nicht in jedem Parlament sitzen Menschen, welche direkt betroffen sind. Da denke ich mir, dass es manchmal leichter wäre, den Blick zu ändern. Und dennoch musst du immer wieder mahnen, dass auch an die Menschen gedacht werden muss, welche Barrierefreiheit brauchen.
Ich muss nicht mahnen. Bei Ortsterminen mit meiner Präsenz fällt es auf und es kommt ein, „Ach da war ja noch was“.
Im Bürgermeisterwahlkampf hat sich ein Kandidat in den Rollstuhl gesetzt und sich auf deine Perspektivebene begeben. In seiner Politik merkt man nichts mehr davon.
Ich habe es als gewollten, gewünschten Perspektivwechsel empfunden, den ich gerne begleitet habe. Die Realität stellt sich heute ein wenig anders dar.
Hattest du dir dadurch etwas erhofft?
Ich habe mir nichts erhofft, weil ich in solche Dinge ohne eigene Erwartungshaltung reingehe. Dann kann ich nicht enttäuscht werden und freue mich über jeden Millimeter, denn man in der Sache erreicht.
Ich bin eigentlich ein Jäger auf Rädern, und zwar ein Jäger nach Sachinformationen, der sie sammelt und anschließend bewertet. Und dazu gehört es ab und zu mal, auch wenn es schwerfällt, das Rückgrat durchzudrücken und gerade zu bleiben.
Du gehst in die Schulen und unterhältst dich mit Jugendlichen. Hast du bei denen das Gefühl, dass du einen nachhaltigen Perspektivwechsel anstoßen kannst?
Also temporär an den eigentlichen Tagen ja. Situationsbedingt kommt es zu den Jugendlichen wieder zurück im Beruf, da ich bei den Klassen der Sozialassistenten und der Heilerziehungspflege unterwegs bin. Da gibt es ein gewisses Grundverständnis. Das schönste Feedback für mich ist dann immer: “ in den heutigen sechs Stunden habe ich mehr gelernt, als in den letzten sechs Monaten.“
Der letzte Besuch in Frankfurt an der Universität war sehr spannend. Es fand ein Gespräch mit Studenten der Architektur statt und es ging um die Sinnhaftigkeit eines doppelten Geländers. Ein beidseitiges Geländer hat eine Aufgabe. Die Studenten sollten die linke Hand in die Tasche stecken und mit der rechten Hand am Geländer hochgehen. Oben dreht man sich um 180 Grad und sucht dann plötzlich ein Geländer, welches nicht vorhanden ist. Durch diesen kleinen Perspektivwechsel kommt es häufig zu einem Umdenken.
Es gibt so viele Menschen und Situationen, auch temporäre Situationen, wo einer kurzfristig eingeschränkt ist. Heutzutage sind 35 Prozent aller Wähler über 60 Jahre. Für diese wird eine veränderte Infrastruktur benötigt. Dies ist mein regionaler Einsatz für Limburg, für den Landkreis im Kreisseniorenbeirat oder mit Kollegen auf Landesebene. Die letzten beiden Jahre waren nochmal ein Sprung aus der Stadt hinaus. Ich muss mich langsam koordinieren, so dass ich mich nicht selbst überfordere. Die Achtsamkeit gegenüber sich selbst ist sehr wichtig geworden.
Was glaubst du, wie man einen nachhaltigen Perspektivwechsel erreichen kann oder siehst du da keine Möglichkeiten?
Ich würde dies gerne mit einem Beispiel beantworten. Wir haben viele politische Ausrichtungen. Was würde es bringen, wenn wir mehrere Menschen dunkel färben und sie durch die Stadt laufen lassen? Es würde eventuell einen kurzen Aufschrei geben, man würde kurz innehalten, aber dann kommt der Alltag und es ist wieder weg. Die meisten lernen erst, auch wenn dies traurig ist, wenn jemand in der eigenen Familie betroffen ist mit einer Einschränkung. Dann verändert sich das Blickfeld.
Was würdest Du selbst für Dich sagen- bist du Nervensäge oder Aktivist?
Ganz klar Aktivist. Die Nervensäge kommt durch meine Präsenz, aber die bringe ich nicht mit. Man spürt deutlich, wenn man jemanden ins Bewusstsein eingedrungen ist. Man löst dann eine gewisse Peinlichkeit beim Gegenüber aus.
Was würdest du dir wünschen?
Dass wir nicht mehr über Barrierefreiheit reden müssen. Ich habe für Barrierefreiheit keine Zeit. Ich wurde ja barrierefrei geboren. Es stellt sich ja auch die Frage, wer behindert ist. Derjenige, der eine Behinderung hat oder derjenige, der behindert wird. Warum soll ich nur teilhaben? Ich möchte ganzhaben? Ich will nicht nur einen Teil. Wenn ich aus Brandschutzgründen oder Vorschriften der Anzahl über Rollstuhlfahrer an einer Veranstaltung nicht teilnehmen darf, dann kann ich dies als Rollstuhlfahrer eventuell noch verstehen, aber als Familienvater und Opa sieht die Sache wieder anders aus und es wird eine Familie bestraft. Dies berührt mich als Mensch und als Vater.
Mehr über die Arbeit und die eigene Perspektive von Frank F. König findet Ihr auf seinem Blog www.koenig-limburg.de
Text und Fotos: Heike Lachnit
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