Lesbos: Appell für Flüchtlingslager Moria

Flüchtlingslager Moria – eigentlich ist darüber alles gesagt, alles geschrieben. Seit fünf Jahren schaut Europa zu, wie Geflüchtete, die Krieg und Verfolgung hinter sich gelassen haben, unter den widerlichsten Bedingungen leben müssen. So beginnt Jeannette Hagen, unsere heutige Gastautorin, der wir uns sehr verbunden fühlen, ihren Appell. Sie weiß auch aus eigener Anschauung: Viele Geflohene sitzen auf Lesbos über Jahre fest. Und Jeannette ist sich zudem sicher: „Niemand kann mehr behaupten, davon nichts zu wissen. Niemand kann sagen, er hätte nie die Bilder gesehen, nie etwas in den Nachrichten darüber gehört.“

Bevor Jeannette fortführt, möchten wir euch auch ein Interview, das Ihr unten im Anschluss findet, ans Herz legen. Elke hat bereits 2018 Kamal Sallat, der selbst fliehen musste, im Hotel Votsala getroffen, nur wenige Kilometer von Moria entfernt. Kamal lebt heute in Berlin, er ist ein in Idlib/Syrien geborener Künstler und hat 2015 die Seestrecke von der Türkei bis nach Lesbos gemacht. Zuletzt musste auch er schwimmen. Ihm ist es besser ergangen als den vielen anderen Geflohenen. Kamal hat Glück gehabt. Seine Worte sind wie auch die von Jeannette höchst eindrucksvoll. Wir finden – Elke ist ja eine Energiebündlerin – sie passen hervorragend zusammen.

Lest erst den Appell von Jeannette und danach Kamals eindringliche Worte.

Moria – eigentlich ist darüber alles gesagt, alles geschrieben. Seit fünf Jahren schaut Europa zu, wie Geflüchtete, die Krieg und Verfolgung hinter sich gelassen haben, unter den widerlichsten Bedingungen leben müssen. Moria ist ein bisschen wie Sperrmüll auf der Straße – alle gehen vorbei, alle nehmen ihn wahr, die meisten ärgern sich beim Anblick, denken aber, dass sich schon irgendwer drum kümmern wird.

Politik hat kläglich versagt

Und genau so ist es. Nur sind die, die sich kümmern nicht dieselben, wie die, die Macht hätten, die Lage nachhaltig zu verändern. Kümmern tun sich jene, die nicht ertragen, was da vor unser aller Augen passiert. Helfer*innen aus aller Welt. Menschen, die seit fünf Jahren immer wieder dort einspringen, wo Politik kläglich versagt oder taktiert. Menschen, die das freiwillig tun, weil sie verinnerlicht haben, dass eine Gemeinschaft – egal ob vor der eigenen Haustür oder auf einer griechischen Insel – nur funktionieren kann, wenn man sich solidarisch verhält.

Jeannette Hagen appelliert für Moria
Jeannette Hagen – ihr Lachen kommt von Herzen.

Nun ist die Lage eskaliert, das Lager ist abgebrannt und wieder sind es die Freiwilligen, die sofort zur Stelle sind und Not lindern, während andere lamentieren oder Betroffenheitsrhetorik in Kameras blasen. Es sind die Helfer*innen, die einmal mehr den Merkel-Satz „Wir schaffen das“ Realität werden lassen. Sie sollten den Friedensnobelpreis bekommen, den die Europäische Union nicht mehr verdient.

Lesbos ist das Hologramm unseres Versagens. (Jeannette Hagen)

Was dort gerade passiert, zeigt auf kleinem Raum, was im Ganzen schiefläuft. Hier werden nicht nur Menschen- und Asylrecht gebrochen, hier gehen Werte buchstäblich in Flammen auf. Werte, für die auch Deutschland angeblich steht und die nun vor unseren Augen aus taktischen Gründen zur Seite geschoben werden. Der Schaden, den das anrichtet, ist kaum zu bemessen, denn er reicht viel tiefer, als bis zu unserem Staatssäckel. Sicher kann man Leid, das vor den eigenen Augen geschieht, verdrängen. Allerdings nur bis zu einem gewissen Grad. Wären wir radikal ehrlich, müssten wir zugeben, dass es in uns etwas bewegt. Dass es uns verhärtet, zynisch werden lässt, unsere Seelen einfriert. Jeder kann sich selbst fragen, ob er das will. Es reicht auch nicht, mit dem Finger auf Politiker*innen zu zeigen. Sie sind nur unser verlängerter Arm. Wir sind die, die sie gewählt haben. Wir sind das Volk, das glotzt, während andere vergammeln.

Sucht Eure Kommunalpolitiker auf, appelliert an deren Verantwortung

Die Lösung? Kurzfristig natürlich die sofortige Evakuierung der Geflüchteten – das darüber überhaupt noch debattiert wird, ist an Lächerlichkeit nicht mehr zu überbieten. Langfristig gesehen brauchen wir eine Einwanderungspolitik, die diesen Namen verdient und die vor allem auch jene Staaten entlastet, die für Deutschland und andere den Torwächter spielen müssen. Bleibt die Frage, wie das gelingt, wie man einen Innenminister, der sich stur stellt, zum Umdenken zwingt. Letztendlich funktioniert das wohl nur durch Druck, der von anderen Politikern kommt, die wiederum mit den Stimmen ihrer Bürger sprechen. „Wer etwas tun will? Bitte sucht Eure kommunalen Politiker auf. Bucht einen Termin in der Sprechstunde Eures Bürgermeisters und appelliert an seine Verantwortung.“, so der Appell von Alea Horst. Sie ist Fotografin, derzeit auf Lesbos.

Wir sind die, die das bestimmen, was später in den Geschichtsbüchern steht. Jeder, jede  einzelne von uns kann etwas bewegen.

Man muss nicht warten, bis der Sperrmüllberg wächst und anfängt zu stinken. Befreiender und für das eigene Wohl besser ist es, selbst aktiv zu werden. (Jeannette Hagen)
Vielleicht ist das etwas, das über die vielen Jahre, die wir nun schon in Frieden und mit einer Grundabsicherung leben, in Vergessenheit geraten ist – zu helfen und für andere da zu sein, macht glücklich. Nicht nur die, denen geholfen wird, sondern vor allem die, die anpacken.
Helfer in Moria Lesbos
Kamal Sallat, 2018 zurück auf Lesbos, zusammen mit Mareke. Elke lernte sie im Hotel Votsala kennen.
Kamal, Du bist 2015 selbst von der Türkei aus nach Lesbos gekommen. Heute lebst Du in Berlin, bist gerade wieder Vater geworden, Glückwunsch. Wie sehr nimmt es Dich mit, nun wieder dieses verstörenden Bilder von Lesbos zu sehen?
Gerade wenn man kleine Kinder hat – meine jüngste Tochter ist gerade vor zwei Wochen geboren – und sieht, wie jetzt Familien mit Kindern auf Lesbos auf der Straße oder im Wald leben müssen, ohne Dach über dem Kopf, manche ohne Decken, oft sogar ohne Essen und Trinken, dann berührt einen das noch mehr als ohnehin. Ich war ja 2018 selbst in Moria für einen Film, den ich dort gedreht habe. Es war so schlimm dort, gerade auch damals schon für die Kinder. Es war immer klar, dass das nicht gut gehen konnte. Das, was jetzt passiert ist, das Feuer, das habe ich nicht erwartet, aber dass es irgendwann zum großen Crash kommen würde, das schon. Es macht mich auch wütend, dass so lange niemand etwas für diese Menschen getan hat.
Hast Du Verständnis dafür, dass deutsche Politiker immer noch eine EU-Lösung fordern?
Nein! Die Leute können nicht auf eine europäische Lösung warten, sie hungern, sie brauchen ärztliche Behandlung. Zu warten, bis in Brüssel eine Entscheidung getroffen wurde, bedeutet in Kauf zu nehmen, dass Menschen schwer krank werden, manche könnten sogar sterben, auch hier geht es auch wieder um Kinder.
Und ist es wirklich realistisch, dass ein Feuer in Moria die Politiker in Europa, die sich bisher von den Zuständen in Moria nicht haben beeindrucken lassen, plötzlich anders denken lässt? (Kamal Sallat)
Ich glaube das nicht. Ich finde den Vorschlag gut, dass Deutschland jetzt erst mal schnell, also wirklich von heute auf morgen, 5000 Menschen aufnimmt. Das ist zumindest mal ein erster Schritt. Ich weiß auch, Deutschland hat den Geflüchteten schon viel geholfen, seit 2015. Fast eine Million Menschen hat Deutschland aufgenommen. Das war toll, das war eine große Sache, für die ich dieses Land sehr mag. Aber was wäre das jetzt noch wert, wenn Deutschland heute angesichts dieser Not nicht einmal bereit wäre, ein paar tausend Menschen aufzunehmen?
Was wünschst Du Dir für die vielen Geflohenen jetzt ganz aktuell?
Als erstes natürlich die Hilfe vor Ort, die sofort nötig ist: Essen, Trinken, Decken. Aber dabei darf es nicht bleiben. Moria muss evakuiert werden.
Die Leute müssen da raus und zwar alle und das so schnell wie irgend möglich. (Kamal Sallat)
Wenn Deutschland 5000 Menschen aufnimmt, dann kann das wirklich nur ein erster Schritt sein. Auch die anderen 8000 Menschen müssen aus der Situation raus, in der sie jetzt sind. Ich finde das auch fair für die Menschen, die dort schon lange wohnen. Auch für sie ist die Lage schon seit Langem sehr schwierig und jetzt, nach dem Feuer, erst recht.
Wie hast Du Dir Dein neues Leben in Berlin eingerichtet, was sind Deine aktuellen Projekte?
Ich arbeite als Künstler in Berlin. Kürzlich habe ich einen Mietvertrag für neue Ausstellungsräume unterschrieben. Dort werde ich nicht nur malen, sondern auch Bilder zeigen, nicht nur meine eigenen, sondern auch die von anderen, von syrischen und deutschen Künstlern. Für die erste Ausstellung im Herbst haben schon viele zugesagt, tolle Künstler, die ihre Arbeiten zum Teil schon weltweit ausgestellt haben, und jetzt bald bei mir, in der Galerie Azimut Berlin in Weißensee. Das macht mich glücklich. Und natürlich macht mich auch meine neugeborene Tochter glücklich. Sie ist einfach sehr, sehr süß!
Kamal Sallat lebt heute in Berlin und stellt dort in Weißensee eigene und die Werke anderer Künstler aus

KAMAL SALLAT , 1980 im syrischen Idlib, geboren, lebt seit 2015 in Berlin. Von 2004 bis 2009 studierte er an der Fakultät der Künste der Universität Damaskus Kunst  und arbeitete danach in Syrien, in der Türkei und in Berlin als freischaffender Künstler. 2018 war er Teilnehmer des Fellowships „Weltoffenes Berlin“ in Kooperation mit dem Brücke-Museum. Seine Arbeiten sind überwiegend Gemälde, Acryl und Öl auf Leinwand, und Collagen. Im Rahmen des Programms „Weltoffenes Berlin“ ist neben einem Bilderzyklus auch der Dokumentarfilm „In einem Boot“ entstanden, der sich mit der Flucht über das Mittelmeer nach Europa auseinandersetzt. Kamal Sallat zeigte und zeigt seine Kunst in zahlreichen Ausstellungen, international und national. Ab Oktober 2020 stellt er seine Arbeiten regelmäßig mit anderen Künstlern in einer eigenen Galerie in Weißensee aus.

Jeannette Hagen ist eine freie Autorin, Coach und Speakerin aus Berlin. 2018 gründete sie die Kunst für Demokratie gUG und ist Initiatorin der Aktion „Kunst gegen Kälte“. Einige ihrer weiteren Stationen: Organisatorin und Initiatorin der ersten deutschen Online-Petition: „Deutschland rauchfrei“, bis 2015 freie Mitarbeiterin BIO Magazin, 2006 bis heute Coach „garage Berlin“. Sie ist Gastautorin verschiedener Publikationen (Bücher, Online-Texte, Print-Texte) zu den Themen Gesellschaft, Leben, Psychologie – auch auf ohfamoos hat Jeannette schon diverse Beiträge veröffentlicht. Wir empfehlen insbesondere ihr Buch über die leblose Gesellschaft, heute aktuell wie nie, denn es geht um Empathie.

Fotos: Maya Meiners Photographie, Nadja Kriewald, Elke Tonscheidt und privat

Elke Tonscheidt
Elke Tonscheidt, die selbsternannte Energiebündlerin, liebt und lebt in Köln. Neben ihrer Arbeit bei ohfamoos schreibt sie auch für andere Medien, besonders gern Porträts und Reportagen. Sie vernetzt sich gern, hat ein Start-Up mit gegründet und war einige Jahre in der politischen Kommunikation tätig.
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Dieser Beitrag wurde erstmals am 14. September 2020 veröffentlicht
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Die Kommentare zu “Lesbos: Appell für Flüchtlingslager Moria”
  • Johannes Speis

    Es geht mal wieder „ums Prinzip“.
    Der Bundesminister Müller (CSU) spielt hier offensichtlich nicht mehr mit.
    Über Spielregeln und Prinzipien kann und soll man streiten – aber später!
    Schnelle Hilfe und konkrete Hilfsaktionen sind dringend erforderlich.

  • Renate Wernery

    Wunderbar treffend – mitten in’s Herz – der Text von Jeanette Hagen.
    Ist es tatsaechlich ‚ amtlich ‚ , dass Deutschland wirklich 5000 Fluechtlinge aufnimmt, statt der ober-peinlichen Zahl von 150 Kindern?


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