Im Herbst des Lebens
Aufmerksame Leser kennen Jeannette Hagen hier schon – ein paar Mal hat sie bereits klug und empathisch für #ohfamoos berichtet, ob über ihr Buch „Die leblose Gesellschaft“ oder ihr Experiment, in der SPD eine Heimat zu finden. Heute schenkt sie uns „ein paar Gedanken über den Herbst des Lebens“, wie sie es bescheiden nennt. Wir haben es sehr gern und zugleich ein bisschen wehmütig gelesen. Und fühlen den Ansporn, der auch daraus spricht.
Draußen vor meinem Fenster wechseln die Blätter des Ahornbaumes allmählich die Farbe. Aus grün wird gelb, rot und braun, die Blätter kräuseln sich an den Rändern, spätestens mit dem nächsten Sturm fliegen sie davon. Es ist Herbst, die Natur zieht sich zurück, um Kraft für das nächste Frühjahr zu sammeln. Oft liest oder hört man, dass Menschen, die die 50 überschreiten, auch in den Herbst ihres Lebens eintreten. Ich würde dann gern antworten, dass das nicht stimmt, denn es gibt ja keinen neuen Frühling mehr, der folgt. Jedenfalls keinen, den man mit all dem assoziieren würde, womit die Zeit der Jugend aufwarten kann.
Kraft tankt man höchstens für die Tage, an denen es nicht mehr so gut läuft. Und die häufen sich bekanntlich mit jeder Jahreszahl, die dazukommt. Wir treten also nicht in den Herbst unseres Lebens ein, sondern wir sind das Blatt, das irgendwann braun und zerknittert vom Baum des Lebens auf die Erde fällt.
Im Herbst des Lebens
Machen wir es kurz: Ich bin keinesfalls begeistert davon, älter zu werden. Es gefällt mir nicht, zusehen zu müssen, wie ich mich körperlich verändere. Noch weniger gefällt mir, dass die Zeit knapp wird für all das, was ich noch erleben und tun möchte.
Es gibt in meinem Kopf keine Rente.
Als mir eine Schulfreundin – damals noch Anfang 40 – erzählte, dass sie gerade auf Wohnungssuche ist und darauf achtet, dass diese barrierefrei ist, damit sie im Alter mit einem Rollator von Zimmer zu Zimmer fahren kann, habe ich mich fast verschluckt vor Lachen. Wie sie jetzt an so etwas denken könnte, habe ich sie gefragt. Und dabei ist mir klar geworden, dass ich solche Szenarien ausblende. Mehr noch – ich kann mich nicht „alt“ denken. In meinen Gedanken gibt es so etwas wie das „hohe Alter“ nicht und doch stoße ich – mittlerweile 53 – natürlich unweigerlich an Schranken, die das Alter aufstellt. Klar kann ich noch einen Marathon laufen. Habe ich auch gemacht im letzten Jahr.
Aber ich kann nicht mehr ganz von vorn anfangen, Grundlegendes so komplett anders machen.
Mein Leben verläuft in einer festen Spur, aus der ich hier und da mal ausbrechen kann, die aber trotzdem, statistisch gesehen, in vielleicht 30 Jahren einfach zu Ende ist. 30 Jahre, das sind 30 Weihnachtsfeste. Dreißigmal die erste selbstgepflückte Erdbeere des Jahres essen, dreißigmal den ersten Schnee sehen oder den Müllmännern dabei zuschauen, wie sie die abgeschmückten und auf die Straße geworfenen Weihnachtsbäume einsammeln. 30 Jahre sind in etwa so viele Jahre, wie mein Sohn jetzt schon auf der Welt ist. Kann ich mich an jedes Jahr erinnern? Habe ich alles so bewusst erlebt, war ich im Jetzt, statt mit den Gedanken bei der nächsten Steuererklärung zu sein?
Ich denke, das ist auch ein Punkt, der das Älterwerden für mich schwierig macht: die Traurigkeit über verpasste Gelegenheiten. Über Momente oder Chancen, die ich habe verstreichen lassen. Über Gelegenheiten, die ich nicht am Schopf gegriffen habe, weil mir der Mut oder das Selbstvertrauen fehlte oder ich einfach zu träge war. Manches ist unwiederbringlich verloren. Und ja, es gibt sie auch in meinem Leben, die Weggabelungen, an denen ich falsch abgebogen bin, wo ich mir selbst nicht treu war, sondern irgendeiner Möhre hinterhergelaufen bin, die jemand anderes aufgehängt hat.
Sinn des Lebens
Mein wahres Problem mit dem Älterwerden liegt auf einer sehr tiefen Ebene und ist an die Frage nach dem Sinn des Lebens gekoppelt. Warum bin ich hier? Um das herauszufinden, braucht man doch mehr als ein Leben. Ich wusste mit 18 nicht, was ich werden wollte, ich weiß manchmal heute noch nicht, wer ich denn eigentlich sein will. Es gibt Tage, da fühlt es sich an, als würde ich durch irgendein Leben stolpern, hier anstoßen, dort anstoßen und alles ohne auch nur den blassesten Schimmer davon zu haben, was das Ganze soll. Dann schaue ich mich um, sehe meine Kinder, nehme wahr, was ich tue und dann fällt mir wieder ein, dass ich mich für all das, was ist, irgendwann mal entschieden habe und dass ich in jeder Sekunde neue Entscheidungen treffe, die bestimmen, was in 10, 20 oder 30 Jahren sein wird. Oder auch nicht, denn auch das lernt man mit den Jahren: Dass es Biografien gibt, die einfach viel zu früh enden.
Aber nochmal zurück zum Sinn. Lange gefiel mir als Antwort auf die Frage nach dem Sinn die Haltung, dass es im Leben darum geht, so zu werden, wie man gemeint ist. Sich also bewusst von allem zu befreien, was nicht zum Selbst gehört, sprich: den inneren Kern, die Essenz oder das wahre Wesen zu finden. Heute denke ich, dass man sich mit dieser Ansicht eine ziemlich große Last aufbürdet – denn was, wenn man zu dieser Essenz nie vordringt? Hat man dann versagt? War das Leben dann weniger wert? Abgesehen davon drängt sich mit dieser Einstellung der Verdacht auf, dass andere uns daran hindern, so zu sein, wie wir gemeint sind. Plötzlich haben wir Schuldige, die dafür verantwortlich sind, dass wir das Glück nicht finden. Eine Ansicht, in der so einige um mich herum steckengeblieben sind.
Trotzig gegen die Schwerkraft
Am Ende bleibt es ambivalent. Es gibt den Teil in mir, der sich nach wie vor wie Anfang Dreißig fühlt. Der stur denkt, dass es einen zweiten Koffer gibt, den ich nur aufklappen muss, wenn der erste verschlissen ist. Einen Teil, der sich trotzig gegen die Schwerkraft stellt und ihr solange den Stinkefinger zeigt, bis die Schwerkraft doch gewinnt.
Es ist ein bisschen wie ein Spiel, dessen Ende man durch geschicktes Taktieren, Antifaltencreme und Nahrungsergänzungsmittel wenigstens ein bisschen herauszögern kann. Es gibt Tage, da bin ich die Spielkönigin. An anderen Tagen verliere ich krachend, muss die Hufe strecken, mich dem Lauf der Dinge ergeben und mich damit arrangieren, dass es mir nicht gefällt. Keiner hat gesagt, dass es einfach ist. Niemand hat uns versprochen, dass wir zweifelsfrei, ohne Turbulenzen und Falten durch dieses Leben kommen.
Wenn ich mir manchmal die Menschen, die in meinem Alter oder älter sind anschaue, dann sehe ich ganz oft in ihren Gesten oder in ihrer Mimik das Kind, das sie mal waren. Ich frage mich dann gelegentlich, was aus ihren Träumen geworden ist, ob sie irgendwann versöhnlich auf ihr Leben schauen und sich verzeihen können, dass sie dem Kind in sich die Träume nicht erfüllt haben. Solche Momente stimmen mich versöhnlich, weil ich erkenne, dass es eben auch Teil des Älterwerdens ist, sich von manchen Träumen zu verabschieden. Ein Prozess, der durchaus befreiend sein kann.
Altern hat etwas Befreiendes
Überhaupt – und jetzt kommen wir zu den Vorzügen – hat Altern wirklich etwas Befreiendes. Es kann mir zunehmend egal sein, was andere denken. Ich bin mit jedem Jahr entscheidungsfreudiger geworden, weil die Stimmen, die mit am Tisch sitzen und abwägen, im Laufe der Zeit weniger werden. Heute weiß ich, dass es nur einen Menschen gibt, mit dem ich das, was ich tue, aushandeln muss. Ich kenne meine Werte, an denen ich mein Handeln ausrichte. Ich will nicht wie früher „Spuren hinterlassen“, weil das impliziert, das andere mein Tun bewerten.
Heute will ich mein Leben dazu nutzen, mich dieser Welt mit all meinen Gaben, all meinem Sein zu schenken.
Damit habe ich genug zu tun. Vielleicht bleibt am Ende noch etwas offen, wahrscheinlich werde ich mit großer Wehmut dem letzten Herbstlaub meines Lebens nachschauen. Vielleicht lerne ich aber auch noch, damit meinen Frieden zu machen. So wie das braune, raschelnde Gekräusel auf der Straße, das auch nicht darüber nachdenkt, dass es mal ein wunderschönes grünes Blatt war.
Jeannette Hagen ist eine der ohfamoosen Gastautorinnen.
Fotos: via Jeannette Hagen, Unsplash und Elke Tonscheidt
Sorry – aber ich, sicherlich eine der Ältesten unter Euch, finde Jeanettes Gedanken unnötig dramatisch. So ‚ergeben‘! Es fehlt die Beschreibung des‘ flows‘ in die amüsante, ueberlegene, frivole Zeit einer erkämpften Unabhängigkeit …..
Jeder macht sich seine eigenen Gedanken zum Älterwerden. Im empfinde meine nicht als dramatisch – meine Gefühle sind eben so, wie sie sind. Ich kann keinen Gefallen daran finden, dass ich irgendwann vieles nicht mehr machen kann. Ich sehe es doch in meinem Umfeld, wie sich die Radien einschränken, was an Optionen wegbricht. Das ist aus meiner Sicht nicht dramatisch, sondern realistisch und immer auch – so, wie ich es geschrieben habe – mit der Option, dass sich diese Einstellung ändern kann.
Danke, Jeanette. Deine Gedanken sind inspirierend. Was den Sinn unseres Lebens betrifft, wünschte ich mir etwas mehr Mut zu konkreten Entscheidungen. Wie und wo bringe ich mich ein? Jetzt und morgen. Ich freue mich über Deine Gedanken!
Ja, der fehlt vielen Menschen. Das hat Elke in ihrem Kommentar ja auch formuliert. Wichtig ist in meinen Augen, Kinder zu ermutigen, ihre Träume zu formulieren, ihnen zuzuhören und die Träume nicht als unrealistisch und absurd abzustempeln. Damit geben wir ihnen Rüstzeug für später. Ich habe festgestellt, dass es eigentlich wenig Träume gibt, die wirklich jenseits unserer Möglichkeiten liegen. Es gibt immer Wege, aber es braucht eben auch Kraft und Beherztheit, um sich auf den Weg zu machen. Wie heißt es so schön: Der Zufall begünstigt die Vorbereiteten. Als ich noch als Coach gearbeitet habe, hatte ich mal einen Klienten, der davon träumte, im Mittelmeer Segelreisen auf einem Katamaran anzubieten, den er selbst gebaut hatte. Irgendwie gab es aber 100 Gründe, warum und wieso er das nicht machen konnte. Aber wenn er von seinem Traum erzählte, dann leuchteten die Augen. Wir haben dann gemeinsam geplant, wie es gehen könnte und irgendwann, gut ein Jahr später bekam ich eine E-Mail aus der Türkei mit einem Bild: Er auf seinem Boot. Das war einer der schönsten Momente meiner Laufbahn als Coach. 🙂
Nach Renates Kommentar habe ich Jeannettes Beitrag nun nochmals gelesen. Ja, er ist nicht euphorisch. Aber ich finde ihn angemessen, ich spüre es sehr ähnlich wie sie. Was mich vor allem überzeugt, ist: Wäre es so, dass die Älteren in ihre „amüsante, überlegene, frivole Zeit einer erkämpften Uanabhängigkeit“ gerieten – WIESO nutzen sie diese nicht um beispielsweise nur diese riesige Ungerechtigkeit auf Lesbos anzugehen? Wie können ältere = lebenserfahrene, fröhlich gescheiterte und immer wieder neu beginnende Menschen es zulassen, dass dort Kinder zittern, Frauen verzweifeln und Männer gegen unsere Vorurteile ankämpfen müssen, nur weil sie anders aussehen schlechtere Menschen zu sein? Wie können wir christlichen Glaubens sein, in die Kirche rennen oder sonstwo zu Gott beten – und dann nicht wenigstens Geld überweisen, hin zu NGO, die vor Ort Regenkleidung, Schuhe und Spielzeug kaufen? DAS wäre für mich der Reiz des Alters. Wenn wir die neue Perspektive nutzten um endlich einzuschreiten. Ich mache es auch zu wenig, aber ich bin länger dabei als manch andere/r. Gerade gestern noch war der Jahrestag von Heba und mir, einer jungen Frau aus Syrien, die nun seit 3 Jahren in einer Düsseldorfer Wohnung lebt, die wir gemeinsam fanden. Und deren beiden Kinder mittlerweile gut integriert in unsere Schulen gehen. Zum Glück. Hätte sie das alleine geschafft? Nein. Also, liebe ohfamoosen Leser: Bitte nutzt die Würde des Alters und setzt Euch ein – vor Eurer Haustür oder direkt dort, wo Menschen um ihr Leben kämpfen.
Liebe Leserschaft
Mein Gedanke zum Thema ist, dass die vor allem deutsche Gesellschaft allerlei Tabus aufrecht erhält. Dazu gehören Gebrechen und Sterben. Viele reden nicht über das was am wichtigsten ist, nämlich die Gesundheit. Viele Menschen sind auch völlig ignorant, und Sterben wird geleugnet, das ist der Grund warum viele eben nicht sterben können, sich ergeben, nachdem sie aufgeben. Selbst das wird behindert durch eine völlig unsinnige „kranke Erhaltungsgesellschaft“. Es gibt soviele schlimme Dinge, wie u,a, Krieg..und auch Flucht..
Die Eitelkeiten nicht Älterwerden zu wollen und demnach auch nicht zu können machen das Leben schwer.
Ich bin maßlos überrascht und entsetzt, dass wir das nicht können. Eine Akzeptanz des Verfalls der Fähigkeiten.
Ich selbst bin lange Schmerzpatientin und muss viel Leid ertragen. Wenn man mir sagt, ich sähe aber gut aus, so sieht man mir nicht alles Leid an. Und deshalb kann es auch geleugnet werden. So ist viel Mensch eher an Oberflächlichkeit als an Tiefgang interessiert.
Dieses Forum ist hoffentlich daran interessiert, damit aufzuhören. Meine Vielseitigkeit hält mich aufrecht und meine abegeisterungsfähigkeit an Natur und Kultur. Das, was alles umsonst für uns alle da ist. Ja, das Leben sollte immer auch dankbar betrachtet werden. (Nun aber gut).🫶🙌🏻😉
Dankbarkeit ist ein gutes Stichwort. Damit lässt es sich gut altern. Den Fokus zu verschieben von dem, was fehlt oder nicht mehr erreicht werden kann, hin zu dem, was schon geschaffen ist. Das darf natürlich nicht in einer überheblichen Haltung enden, so nach dem Motto: „Ich habe meinen Beitrag hier geleistet“ und nun halte ich still. Aber dankbar zu sein für dieses geschenkte Leben, öffnet die Tür zur Annahme dessen, was ist. Und ich gebe Ihnen recht: Wir täten gut daran, Verfall und Sterben als Teil des Lebens zu integrieren. Mir hilft mein Hund gerade dabei. Mit ihm gemeinsam „Altern“ zu erleben, macht mich weicher. Vielen Dank für Ihren Kommentar!