Ein besonderes Buch: U-Bahn-Reiter
Unser Gastautor Dieter R. Fuchs hat sich für uns auf die Suche nach einem besonderen Buch gemacht. Nach einem Buch, das gut zu uns hier passt und das man eher nicht auf den Mainstream-Tischen und in den Regalen der meisten Buchhandlungen findet. Das Buch U-Bahn-Reiter ist seine Empfehlung:
Als ich auf dieses Buch eher zufällig aufmerksam wurde, faszinierte mich bereits der Klappentext:
„Tiny Stricker fährt U-Bahn, beschäftigt sich mit Gesten, Blicken, Worten, Stimmungen, Codes und Gesichtern, aber eigentlich ist er auf der Suche nach der Seele der Stadt.“ Das klang für mich nach einem Beobachter, der hinter die Fassaden blicken will.
Was ich dann bei Wikipedia über den Autor Tiny Stricker las, klang ebenfalls vielversprechend: „Ein Pionier der deutschen Pop-Literatur und mit seinem Roman Trip Generation hier stilprägend für das Genre der Road Novel.“
Sein Lebenslauf weckte dann endgültig meine Neugier: Gleich nach dem Abitur 1968 überführte er ein Auto in den Iran, im folgenden Jahr begab er sich auf den legendären Hippie Trail nach Indien. Er blieb der Hippiebewegung auch in den Folgejahren treu, war Sänger der Band Siloah, lebte eine Weile in einer Kommune und studierte schließlich Anglistik und Germanistik. Seine frühe literarische Aufbereitung dieser Erfahrungen prägten die spätere Berufswahl zum Lektor und Lehrer, viele Jahre im In- und Ausland beim Goethe-Institut.
Ein ungewöhnlicher Blick auf die Menschen im urbanen Alltag
Als ich das Buch daraufhin erwarb und mit Begeisterung gelesen hatte, und wenig später den Autor auch persönlich bei einer Lesung erleben konnte, stand für mich fest, dass dies eine perfekte Wahl für meine Buchempfehlung bei Ohfamoos war. Ein von Empathie und großer Lebenserfahrung getragener, sehr genau beobachtender Blick auf die Passanten, Szenen und Stimmungen, literarisch originell und gekonnt dargeboten.
Ein Großstadt-Brevier aus einem sehr speziellen Blickwinkel, nämlich aus der vermeintlichen Anonymität der Lebensadern unserer Städte, den U-Bahnen und Bahnhöfen. In der dort herrschenden Flüchtigkeit der Wahrnehmung und Masse an Einzelbildern und Gedankenflittern findet Tiny Stricker pointiert die sprachlichen Mittel, mit seinem Buch eine menschlich ansprechende und intellektuell anregende Gesamtwirkung zu erzielen, die Augen öffnet und das Mitfühlen anregt. Er beherrscht hierbei die gesamte Dramaturgie der Stimmungen, die er aufnimmt, seien es heftige Gespräche, oder die Spannung, welche auch das Schweigen bewirken kann, die Freude über ein spontanes Lächeln mitten im allgemeinen Wegschauen. Selbst die Akustik, Intonation und Wortwahl der urbanen Umgebung wird aufgefangen für uns.
U-Bahn-Reiter: ein echtes Stimmungsbild
Mir ging es beim Lesen mancher Passagen so, dass ich mich an ein literarisches Pendant zu impressionistischen Gemälden erinnert fühlte. Trotz der Dichte und der detailgenauen Vielfalt schlaglichtartiger Einzelbeschreibungen und fantasiereicher Gedanken des Autors hierzu entstand ein echtes Stimmungsbild, das nicht überfordernd, sondern wohltuend auf mich wirkte. Ein Bild, in dem Raum geboten wird auch für eigene Gedanken und Träumereien. Natürlich ist es besonders schön, als Münchner dies genau an den Orten dieser Stadt nachzuempfinden, die man selbst fast täglich passiert. Aber U-Bahn-Reiter ist keineswegs nur ein München-Buch, nein, vielmehr repräsentativ und passend zu allen unseren urbanen Lebenswelten.
Unterwegs mit der U-Bahn
Schön empfand ich auch, dass er uns immer wieder kurz auftauchen lässt aus dem Labyrinth der U-Bahnen, mitnimmt auf kleine Exkursionen zu anderen Orten, sei es nur in sonnendurchflutete Parks an der Erdoberfläche, oder auch mal nach Weimar, bis hin zu kurzen Urlaubsreisen. Das schafft Kontrapunkte, verändert den Blickwinkel, führt aber auch umso bewusster zurück in den eigentlichen Mikrokosmos dieses Buchs. Fast als solle man den pulsierenden Lebensrhythmus dort noch deutlicher mitfühlen können, die Schönheit der Wahrnehmungsvielfalt umso mehr schätzen, die das Unterwegssein uns ermöglicht, selbst wenn man sich nur in einem engen urbanen Bereich bewegt.
So gesehen ist also auch dieses 2020 erschienene wunderbare Buch eine Road Novel, nimmt mit auf eine Reise, lässt uns genau hinschauen. Für den Autor schließt sich so der Kreis zu seinen ersten Werken, die in ganz anderen, schillernden und exotischen Umgebungen spielten. Er bleibt sich hierbei treu, stellt weiterhin die Menschen um ihn herum in den Fokus, nicht die Schauplätze. Wohlwollend, mit einer ansteckenden positiven Grundhaltung, neugierig und empathisch.
Mit wachen Augen
Ich traf Tiny inzwischen nochmals, durfte ihn näher kennen und schätzen lernen. Deshalb darf ich mir das Fazit erlauben, dass sein U-Bahn-Reiter ein zutiefst authentisches Buch ist. Der Detailreichtum ist nicht nur durch akribische Beobachtung und intellektuelle Durchdringung geprägt, sondern spiegelt auch die weltläufige Sicht des Menschen Tiny Stricker auf seine Mitmenschen wider. Mich hat das nach der Lektüre motiviert, ihm in diesem positiven Sinne nachzueifern, mir also wache Augen und ein offenes Herz zu bewahren, auch während trivialer Momente wie bei einer U-Bahn-Fahrt.
Deshalb meine nachdrückliche Empfehlung hier, gönnt euch diese kleine gedankliche Reise, es lohnt sich und geht über gute Unterhaltung weit hinaus!
Zum Hineinschnuppern gibt es eine Audioaufzeichnung des Literatur Radio Hörbahn. Tiny Stricker las in Schwabing aus seinem Buch und stellte sich hinterher den Fragen des Intendanten Dr. Uwe Kullnick: Jetzt reinhören
U-Bahn-Reiter
Autor: Tiny Stricker
Taschenbuch 13,90 €, eBook 6,99 €
erschienen bei p.machinery, 2020, ISBN 978-3957652065
Fotos: Dieter R. Fuchs und Pixabay
Nun ist ohfamoos auch bei Wikipedia erwähnt, schaut mal:
https://de.wikipedia.org/wiki/Tiny_Stricker