Gerald Hüther: „Brauchen Bürgerbewegung für mehr Lernlust“
Zum Weltkindertag hat sich die Initiative LernLust.JETZT zu Wort gemeldet. Ihr Ziel: Als Bürgerbewegung für die Lernfreude in Schulen anzutreten und zu inspirieren. In ganz Deutschland. Mit Hilfe von Lernlust-Ortsbündnissen, ob im Allgäu, in Aachen oder Aurich. Die Bewegung wartet nicht mehr ab, bis „von oben“ etwas passiert. Vielmehr nehmen es Menschen jetzt selbst in die Hand. Vor Ort, in ihrer Schule. Aber was genau? Das habe ich Dr. Gerald Hüther gefragt.
Gerald Hüther ist einer der Antreiber dieser Initiative und hat bereits ausgemacht: Den Wendepunkt. Für den bekannten Neurobiologen ist klar: So wie bisher kann, darf und wird es nicht weitergehen. Er setzt auf die Kraft der vielen Kleinen, die die Initiative groß machen will: Ortsbündnisse in der jeweiligen Gemeinde oder dem Stadtteil, die sich derzeit bereits gründen und loslegen. Mit deren Hilfe soll es laut Hüther und seinen Mitstreiter*innen möglich werden, „den Kurs des schwerfälligen Riesentankers Schulsystem so umzulenken, dass sich die Entdeckerfreude und Gestaltungslust unserer Kinder und Jugendlichen endlich in immer mehr Schulen entfalten kann“.
Das Interview
Im folgenden Interview lest Ihr, was Lernlust.jetzt so besonders macht, und Ihr erfahrt, wie Ihr Euch der Bewegung anschließen könnt.
Herr Hüther, Sie sagen, es sei beschämend und nicht länger hinnehmbar, was in unseren Schulen passiert. Was genau regt Sie so auf?
Gerald Hüther: Gerade die letzten anderthalb Jahre, in denen Kinder sogar von der Schule ferngehalten wurden, haben doch gezeigt, in welchem selbsterzeugten Schlamassel wir stecken. Schon vorher hatten die Eltern keinen Einfluss auf das, was der Schule geschieht. Und auf die Frage, wozu diese Schulen eigentlich da sind, haben sie nie eine klare Antwort bekommen. Geht es um Ausbildung, also Wissensvermittlung für das spätere Berufsleben? Oder um die Aufbewahrung der Kinder, damit beide Eltern arbeiten können? Oder um Selektion, damit diejenigen ausgelesen werden können, die für weiterführende Ausbildungen in Frage kommen? Es wird höchste Zeit, dass diejenigen darüber bestimmen, was Schule und Bildung sein sollen, denen das Wohl und die Zukunft der Kinder und Jugendlichen wirklich am Herzen liegen. Und das sind doch wohl zuallererst ihre Eltern.
Sie sagen: Schulen müssen von Entdeckerfreude und Gestaltungslust geprägt sein, und LernLust.JETZT will diese massiv fördern. Wie genau?
Viele Menschen sind mit unserem Schulsystem unzufrieden, aber sie wissen nicht, wie sie es verändern sollen. Alleine geht das gar nicht. Deshalb ermutigen wir Eltern, Lehrer und sonstige Interessierte aus Städten und Gemeinden, ein Ortsbündnis mit Gleichgesinnten aufzubauen. Das soll dann den Verantwortlichen für die ortsansässigen Schulen ihre Unterstützung anbieten, um die Bedingungen in diesen Schulen so zu gestalten, dass die Freude der Schüler am Lernen nicht noch weiter verloren geht sondern wieder „beflügelt“ wird.
Am besten einen Lehrer schnappen
Sie und ihrer Mitstreiter*innen kennen die Schullandschaft besser als ich… sind die Schulen dafür aufgeschlossen? In einem Interview sagten Sie kürzlich, man solle sich am besten Lehrer*innen schnappen… Nur wie?
Es wird ja keinen Lehrer, auch keinen Schulleiter und noch nicht einmal einen Kultusminister geben, der ernsthaft in Zweifel zieht, dass die Lernfreude die wichtigste Voraussetzung für die Aneignung von Wissen und Können in der Schule ist. Dort setzen diese Ortsbündnisse an, um gemeinsam mir den Schulverantwortlichen konkrete Maßnahmen zu beschließen und umzusetzen, die geeignet sind, die Freude der Schüler am Lernen wiederzuerwecken. Auch wenn es zunächst nichts mehr ist als den Unterricht bei schönem Wetter draußen auf der Wiese durchzuführen:
Wenn erst einmal ein Anfang gemacht ist, wächst der Mut und die Bereitschaft, auch deutlich tiefer reichende Maßnahmen in der betreffenden Schule umzusetzen.
Welche Rolle spielen die Schülerinnen und Schüler in diesen Bündnissen?
Die zentrale. Um deren Wohl geht es ja und sie stehen im Mittelpunkt dieser Bemühungen. Die Ortsbündnisse sind ihre Lobby, und deren Mitglieder suchen gemeinsam mit den Schülerinnen und Schülern nach kreativen, praktisch umsetzbaren Wegen, die sie den Bildungseinrichtungen vor Ort vorschlagen, um dort eine günstigere Lern- und Beziehungskultur aufzubauen.
Passt das aber in die Lebensrealität von Familien? Viele hangeln sich vom Üben für die nächste Mathearbeit über den Sportverein oder die Musikschule über den Tag, sacken abends ins Sofa oder gleich ins Bett…
Wer mit wirklicher Freude und Begeisterung lernt, braucht viel weniger Zeit und Aufwand, um sich bestimmte Wissensinhalte anzueignen. Beim Erlernen einer Fremdsprache wird das besonders gut deutlich. Wer Englisch, Russisch oder Chinesisch wirklich liebt und die Sprache unbedingt erlernen will, schafft das in einem oder höchstens zwei Jahren. Mit ihr oder ihm braucht sich niemand im Unterricht oder zu Hause jahrelang abzuquälen. Mit der Freude am Lernen würde alles deutlich leichter, für die Lehrer, für die Eltern, aber vor allem für die Schüler.
Sie sagen: „Die Schülerinnen und Schüler brauchen nicht noch mehr Unterricht, noch mehr Leistungsdruck und noch mehr Kontrollen, sondern ein starkes und verlässliches lokales Bündnis von Eltern, Pädagogen und all jenen Bürgerinnen und Bürgern, die sich für die Aufrechterhaltung ihrer Lernfreude einsetzen.“ Ich habe noch nicht verstanden, wie ein Ortsbündnis als kleines Schnellboot den Riesentanker Schulsystem so attackieren kann, dass er sich auch bewegt oder gar mitmacht…
Das Ortsbündnis soll den Riesentanker ja gar nicht attackieren, sondern nur seitlich mit einem Tau bei ihm festmachen und behutsam aber beharrlich an ihm ziehen.
EIN solches Bündnis für eine Schule wird nicht allzu viel auf der Ebene unseres Schulsystems erreichen, aber ganz VIELE solche seitlich ziehenden Beiboote werden seinen bisherigen Kurs schneller umlenken als sich das die meisten von uns gegenwärtig vorstellen können.
Inwieweit ist die von Ihrer Mitstreiterin Margret Rasfeld gegründete dewegung „Schule im Aufbruch“ hilfreich oder eingebunden? Und kann auch Ihre „Akademie für Potentialentfaltung“ unterstützen?
Die Bewegung „Schule im Aufbruch“ unterstützt die Schulen bei einem von diesen Schulen angestrebten Veränderungsprozess. Die „Zielgruppe“ von Lernlust.jetzt sind all jene Bürgerinnen und Bürger einer Gemeinde, eines Stadtteils oder einer Stadt, denen die Zukunft der dort heranwachsenden Kinder und Jugendlichen am Herzen liegt. Die Lernlust-Initiative unterstützt diese Ortsbündnisse, damit sie in den jeweiligen Schulen vor Ort wirksam werden können. Koordiniert, unterstützt und vorangebracht wird dieses Bemühen der Ortsbündnisse sowohl von „Schule im Aufbruch“ wie auch von der „Akademie für Potentialentfaltung“.
Damit die, die jetzt bis hierhin gelesen haben und vielleicht sagen: Toll, das denke ich auch, wie kann ich mitmachen. Der nächste Schritt wäre, sich bei Lernlust.jetzt zu melden?
Zuerst mal schauen, ob sich noch ein paar andere Bürger aus dem Ort oder dem Stadtteil dafür begeistern lassen, vielleicht auch manche Lehrer aus der Schule vor Ort und dann www.lernlust.jetzt aufrufen, dort unter „Ortsbündnisse gründen“ nachschauen und dann einfach loslegen.
Zum Schluß noch das Wichtigste:
Wir haben die Initiative gestartet, damit möglichst viele solche Ortsbündnisse überall im deutschsprachigen Raum entstehen, und es gibt diese Website, damit die Mitglieder dieser vielen Bündnisse dort ihre jeweils gemachten Erfahrungen austauschen, voneinander lernen und einander Mut machen. Erst dann, wenn das geschieht, kann eine mächtige Bürgerbewegung aus vielen, vor Ort wirksamen Bürgerbündnissen entstehen.
Vielen Dank für Ihre Antworten!
Gegründet wurde LernLust JETZT von einem Trio: der Konfliktforscherin und Unternehmensberaterin Corinna Sahl, der ehemaligen Lehrerin Margret Rasfeld und dem Neurobiologen Gerald Hüther. Interessant auch das Interview, das Corinna Sahl Deutschlandfunk Kultur gegeben hat und das Ihr hier findet.
Foto von Gerald Hüther: Michael Liebert