„Wir können gemeinsam die Ukraine retten“
Die ganze Welt berichtet. Aber steht sie, stehen wir auch auf? Was können wir dafür tun, den Krieg in der Ukraine zu stoppen? Was kann ohfamoos berichten, wo doch alle Medien pausenlos live sind, überall Hintergrundberichte aufblitzen und die Spekulationen blühen? Wir haben in unser Netzwerk geschaut, wie so oft. Und mit drei Menschen gesprochen – zwei Russinnen und einem Deutschen, der Russland gut kennt. Und wir lassen eine Ukrainierin zu Wort kommen, die von einer Journalistenkollegin interviewt wurde. Vier Stimmen also, von denen wir sicher sagen können, dass sie uns sehr authentisch über die extrem schwierige Lage in der Ukraine Auskunft geben.
Manchmal geht alles ganz schnell. Wir sitzen im Auto gen Holland, meine Familie und ich, und natürlich ist das beherrschende Thema nicht die Vorfreude auf unsere kleine Auszeit. Wir reden über das, was in der Ukraine passiert und beantworten Fragen unseres Sohns, der viele hat. Der am Abend zuvor in den Kika-Nachrichten LOGO den SPD-Politiker Michael Roth sagen hörte, dass sich die Kinder in Deutschland aktuell keine Sorgen machen müssten wegen des Kriegs in der Ukraine. Aber am Morgen beim Frühstück höre ich Fragen wie diese:
„Mama, wie weit fliegt eigentlich eine Atombombe?“
Schnell geht das. Vorgestern war noch der kommende Karneval das Thema, jetzt der Krieg in der Ukraine. Und es sollte nicht die letzte Frage gewesen sein.
Im Auto checke ich die Nachrichten via Facebook. Das Radio schalten wir ab, wir wollen uns nicht die ganze Zeit mit diesen schlimmen Nachrichten versorgen. Ich sehe meine Freundin und Journalistin Nadja Kriewald und dass sie für ntv und RTL aus Kiew über den Krieg in der Ukraine berichtet. Mein Gott, wie mutig sie doch ist. Ich war schon sehr beeindruckt, wenn sie aus Lesbos berichtete oder in anderen Krisengebieten war, aber mitten im Krieg mit dem Mikrophon stehen? Beachtlich, wirklich.
Und dieser Krieg in der Ukraine lässt weder heute noch mittel- und langfristig niemanden los. So hatte mir bereits ein Freund und Russland-Kenner ein paar Stunden zuvor zu verstehen gegeben, wie entsetzt er sei über Putin und das Land, in dem er jahrelang sicher lebte. „Es ist ein Krieg gegen uns alle“, sagt Thomas, der nun in Brandenburg lebt, fassungslos. Und ich merke, wie sein Zorn blüht.
Eine russische Freundin solidarisiert sich
Und wenig später lese ich eine WhatsApp einer russischen Bekannten, die das loswerden muss:
„Liebe Freundinnen, mit Entsetzen und Trauer habe ich über die russische Invasion in die Ukraine erfahren. Ich habe es bis zuletzt nicht für möglich gehalten. Jetzt ist es passiert und ich kann meine Emotionen nicht in Worte fassen. Nichts in der Welt kann einen Krieg rechtfertigen. Die einfachen Menschen auf beiden Seiten tun mir unheimlich leid. Ich weiß nicht, was noch kommt, ich lese russische Presse online, und ich möchte sagen, dass die russische Gesellschaft mit diesem Krieg nicht einverstanden ist! Viele, sehr viele Intellektuelle und bedeutende Persönlichkeiten erheben ihre Stimmen dagegen! Ich hoffe sehr, dass der Wahnsinn bald ein Ende hat.“
Eine Ukrainerin in Köln: „Das ist kein russisch-ukrainischer Krieg“
Mir steigen Tränen in die Augen, wenn ich lese, was sie schreibt. Und so wie ihr geht es offenbar auch der in Köln lebenden ukrainischen Sängerin, Komponistin und Schauspielerin Mariana Sodovska. Sie sagt in einem Interview mit dem Nachrichtenportal Meine Südstadt u.a. das:
„… was mir persönlich sehr wichtig zu betonen ist: All meine russischen Freund*innen, die in Deutschland leben, sagen ganz klar: Wir sind auch gegen Diktatur, gegen die russische Aggression in der Ukraine. Sie entschuldigen sich öffentlich bei der Ukraine. Das ist ganz wichtig zu sagen: Es ist kein russisch-ukrainischer Krieg, das ist der Krieg eines Diktators gegen die freie demokratische Welt.“
Interview mit Thomas, der lange in Russland lebte
Ich möchte nochmal mit Thomas über den Krieg in der Ukraine sprechen. Thomas kennt die russische Lebensart so viel besser als ich. Ich bitte ihn in unserem Telefonat aufzuschreiben, was er fühlt. Fast glaube ich, dass er ein bisschen froh ist, es sich von der Leber zu schreiben. Denn Thomas hat mit seiner russischen Familie sechs Jahre in Russland gelebt. Ihr Leben dort zu der damaligen Zeit war gut. „Wir fühlten uns wohl“, erinnert er sich – und auch an das:
„Als Deutscher fühlte ich mich akzeptiert und willkommen. Der Überfall auf die Krim sowie den von Putin angestachelten Dauerkonflikt im Donbass und Luhansk zwangen uns damals jedoch bereits zum Umdenken. Es wurde immer deutlicher, dass dieses auf Lügen und einer offen zur Schau gestellten Doppelmoral geschaffene System in Russland einfach nur widerlich, perfide und menschenverachtend ist. Ein Regime, das die Machtelite fördert, hält das schon fast immer klein gehaltene Volk unten und das trotz einer gewissen Mittelschicht. Das Regime Putin macht kurzen Prozess mit politisch Andersdenkenden. Beispiele gibt es zuhauf: Nemzov auf offener Straße erschossen. Navalny, erst vergiftet; dann nach seiner in Deutschland wiederhergestellten Gesundheit in einem Scheinprozess in Russland ins Straflager verurteilt – unter völliger Verbiegung der russischen Gesetze und Rechtsprechung und unter unmöglichen Bedingungen.“
Thomas, was empfindest Du aktuell in diesen Stunden?
„Als Deutscher, der heute noch Kollektivschuld und Scham für die Verbrechen der Nazis im Dritten Reich empfindet, beobachte ich eine Art Wiederholung der Geschichte. Nur heißt der heutige Adolf Hitler, Wladmir Wladimirevitsch Putin. Ein entgrenzter, wahnsinniger Mann, der über alles geht und nur zwei Ziele verfolgt: 1. an der Macht zu bleiben und damit „seinen Arsch“ zu retten, und 2. in die Geschichte einzugehen. Ich fühle mich ohnmächtig. Ich bin fassungslos, traurig und unfassbar wütend.“
Und was befürchtest Du jetzt?
„Es ist zu befürchten, dass dieser Schritt „nur“ ein Anfang ist. Denn sollte Putin damit durchkommen und die Weltgemeinschaft ihm und seiner Herrscherclique nicht massive Grenzen aufzeigen, geht die Welt, die wir im demokratisch geprägten Westen schätzen und lieben gelernt haben, zu Ende.
Der Kampf hier ist nicht: Russland gegen die Ukraine. Es ist der Kampf, eines machtgetriebenes Diktatorensystems gegen die Demokratie.
Eine Demokratie und Lebensform, die vom System Putin verachtet und als sehr schwach denunziert wird. Für ihn zählt nicht die Stärke des Rechts, sondern das Recht des Stärkeren. Putin wird vor nichts haltmachen. Er hat versagt, sein potentes Land durch Wirtschafts- und Sozialreformen auf den Weg zu bringen. Diese sind seit über 20 Jahren notwendig. Er aber hat an vielen Stellen in der Welt Konflikte inszeniert und unbequeme Personen durch Geheimdienste beseitigen lassen. Das hat ihn zunehmend auf der Weltbühne isoliert. Putin sieht für sich nur noch einen Ausweg: Krieg. Dies begründet er mit einem völlig verzerrten Geschichtsnarrativ und beschuldigt die Ukraine seiner eigenen Verbrechen, die er seit Jahren begeht.“
Was muss jetzt passieren, welche Chance gibt es?
„Diese menschenverachtende Gleichgültigkeit, dieses mörderische Verhalten eines wahnsinnigen zynischen Verbrechers darf unter keinen Umständen – und ich wiederhole: unter keinen Umständen – toleriert werden.
Die ganze freie Welt muss aufwachen und aufstehen.
Denn Putin versteht nur eine Sprache: Stärke und äußerste Entschlossenheit! Der deutsche Bundesfinanzminister Christian Lindner hat gesagt, ich zitiere: „Wir haben in Deutschland mit einer Friedensdividende gelebt.“ Lindner hat Recht. Denke ich an meine Großväter, die beide in dem sinnlosen Krieg Hitlers kämpfen mussten, wuchs ich mit dem Gefühl auf, der Krieg in Europa sei überwunden. Doch anscheinend ist es an der Zeit aufzuwachen. Wir müssen die Werte unserer freien Gesellschaft und den Frieden noch mehr schätzen und verteidigen.
Wir müssen jetzt klug handeln und zu allem entschlossen sein, um Putins Russland eine Grenze zu setzen. Ich gehe sogar so weit zu sagen: Ein Ende zu setzen. Denn auch wenn ein Wahnsinniger den Knopf am 2t-größten Atomwaffenarsenal hat, dürfen wir uns von weiteren Drohungen keine weitere Angst machen lassen. Wir alle haben ein Leben in Freiheit und Würde verdient.“
Wen meinst Du mit der Formulierung „wir alle“?
„Ich meine insbesondere auch den sehr großen Teil der russischen Zivilbevölkerung. Selbst wenn z.Zt. weite Teile durch Staatspropaganda aktuell geblendet sind. Ich meine die Intellektuellen, die Sportler, die Kulturschaffenden, die jungen Menschen, zahlreiche Exilrussen und alle Russen, die gerne eine Zukunft in Würde, Freiheit und mit Perspektiven haben wollen. Denn ich weiß, sie alle verurteilen das aktuelle Unrecht zutiefst. Und spätestens jetzt ist der Zeitpunkt, dass freiheitsliebende Russen in Russland und weltweit aufstehen und helfen, diese Ungerechtigkeit und Tragödie zu beenden.“
Interview mit einer Russin über den Krieg in der Ukraine
An dieser Stelle möchte ich eine andere Russin, die ich kenne, ins Spiel bringen. Sie lebt in Süddeutschland. Auch sie möchte anonym bleiben und ist geschüttelt – von tieftraurig über Wut bis hin zur Bewunderung. Und: Sie sieht die russische Gesellschaft zersplittert, erfährt am eigenen Leib, dass ihre Familie uneins ist. Ich frage die 50jährige:
Warum bist Du so wütend?
„Über Putin, der sich wegen seiner krankhaften Ambitionen das Recht zuschreibt, über Leben und Schicksale anderer Menschen und Länder zu entscheiden. Mich macht es wahnsinnig, dass er so viele Menschen in meinem Land durch seine Propaganda geblendet hat. Sie können nicht mehr denken, verstehen keine Zusammenhänge mehr und unterstützen die immer verrückter werdenden Maßnahmen und Verbrechen der Gruppe an der Macht.
Schon deutlich seit der Annexion von der Krim in 2014, aber insbesondere jetzt nach diesem furchtbaren Überfall der Ukraine am frühen Morgen den 24. Februar 2022 ist die russische Gesellschaft zersplittert. In meiner eigenen Familie gibt es zwei Personen, die den Krieg gut und richtig finden. Keine Argumente wirken auf sie und ich weiß nicht, ob und wie ich die Beziehung mit ihnen weiter erhalten kann. Es scheint mir im Moment sehr schwierig zu sein.
Ein repressives Gesetz nach dem anderen
Ich ärgere mich auch darüber, dass die Machtstrukturen so viele gute und aktive Menschen in meinem Land in einen Angstzustand getrieben haben. So werden sie sich auch jetzt nicht trauen, ihren Protest gegen den unrechten und ziellosen Krieg, welcher nicht nur die Ukraine, sondern auch Russland für lange Jahre aus der Weltentwicklung auswerfen wird, auszusprechen.
Tag für Tag, Schritt für Schritt entwickelte sich Russland zum Stand, wo wir uns heute befinden.
Ein repressives Gesetz nach dem anderen, gefälschte Wahlen, willkürliche Verfassungsänderung, ungerechte Gerichtsurteile, Verängstigung der Menschen, Verbote und Strafen für jedes freie Wort haben wir in den letzten 20 Jahren erlebt.
Jeder einzelne Schritt kann an sich als „nicht allzu schlimm“ betrachtet werden, man kann doch auch so weiterleben – so ungefähr hatten wir gedacht und nichts oder viel zu wenig dagegen unternommen. So stehen wir heute machtlos da, wo wir sind – ohne Menschenrechte, beraubt von einer Machtclique, die nie wirklich gewählt wurde und die nie weggehen will. Ich denke, dass der Fall Russland für viele Völker ein Beispiel sein kann, was passiert, wenn man die Demokratie nicht jeden Tag verteidigt.
Siehst Du auch Hoffnung, trotz allem?
„Ja. Die ist noch klein, aber sie ist da. Ich hoffe, dass die Welt jetzt aufwacht und sich an die Geschichte vom 20. Jahrhundert erinnert. Man muss den Aggressor stoppen. Je früher, um so geringer wird der Preis sein, den wir zu zahlen haben. Denn jeden weiteren gelungenen und von der Welt verschluckten Schritt in seinen Eroberungsplänen wird er als eigenen Erfolg empfinden. Er wird immer weiter gehen – das niedergelegte eigene Land reicht ihm nicht mehr.
Um an der Macht zu bleiben, wird Putin sein Reich immer weiter ausbreiten wollen. Die Geschichte zeigt uns zu gut, was dann passiert. Und wir sind doch so viele wohlwollende Menschen, die gemeinsam die Tragödie noch stoppen können. Hier sind die Handlungen auf jeder Ebene nötig – von privaten Personen bis zu Regierungen und internationalen Allianzen. Wir müssen rasch handeln, bevor es zu spät ist. Aber ich bin überzeugt, es ist möglich, noch möglich. Ich sehe die Vorzeichen von einem möglichen Kippen der Situationsentwicklung.
Wir können gemeinsam die Ukraine retten. Damit retten wir auch uns und unsere Kinder.
Welche Gefühle überwiegen momentan?
Ich bin, zum einen, unfassbar traurig. Mir tun die Ukrainer so unheimlich leid, dass ich meine Gefühle in keine Worte fassen kann. Die unschuldigen Menschen, Männer, Frauen, Kinder, die nichts anderes wollten, als ein normales Leben in ihrem Land aufzubauen – mit Demokratie, Freiheit und ökonomischer Entwicklung. Sie wollten zum freien Europa und der zivilisierten Welt gehören – jetzt werden sie dafür vor unseren Augen gnadenlos von einem Tyrannen bestraft.
Zum anderen bin ich voller Bewunderung. Die Ukrainer sind ein tapferes und sehr freiheitsliebendes Volk, sie haben für ihre Werte hart gekämpft und nun stehen sie vor einer Herausforderung, die es noch nie gab. Ich wünsche es vom ganzen Herzen, dass dieser Albtraum möglichst bald endet. Als Russin spreche ich meine volle Solidarität mit der Ukraine aus und werde alles tun, was ich kann, um sie in dieser unfassbar schwierigen Situation zu unterstützen.“
Meine Freundin, die Journalistin Nadja Kriewald, berichtet mittlerweile nicht mehr aus Kiew über den Krieg in der Ukraine. Sie ist mit ihrem Kamerateam weiter nach Lemberg gezogen. Auch da bleibt sie standhaft. Und die Fragen unseres Sohns? Auch die bleiben – und werden hartnäckiger.
Fotos: privat
1989 reverse! So wie damals müsste die Welt zusammen stehen. Und was macht eigentlich die Kirche ganz praktisch? Gibt es Kanäle zur orthodoxen Kirche in Russland? Geht da mehr als beten während Karneval?
Ergreifende und klare Worte in diesem Beitrag. Und wir spüren auch hier, wo die Welt steht, wenn “voll das gute Leben” so dramatisch und unbegreiflich erschüttert wird.
Ich hoffe inständig, dass der Friede letztlich siegt und aus der aktuellen Spirale aus Druck und Eskalation ein Ausstieg möglich ist – in Richtung Demokratie, Freiheit und einer gemeinsamen europäischen Idee.
Mein Mitgefühl ist mit allen Ukrainer*innen, die so tapfer und standhaft zeigen, wer sie sind und wofür sie stehen. Die gezwungen werden sich zu wehren und dies auch tun!
Und mit den unglaublich mutigen Russ*innen, die in Russland auf die Straße gehen und zeigen, dass dieser Krieg kein Krieg des Volkes ist! Weiter so, ihr seid gesehen und ihr seid stärker als das kranke System eines verblendeten Massenmörders!
Seit Kriegsbeginn habe ich das Gefühl, etwas tun zu wollen. Spenden hat sich als eine gute Option gezeigt. Zahlreiche Stellen erlauben Unterstützung unterschiedlicher Natur. Kann ich empfehlen.
Danke, dass ihr das Thema beleuchtet habt!