Abtauchen und freischwimmen
Ein gutes Buch – schon länger haben wir keins mehr empfohlen. Das ändert sich nun, denn Elke hat 22 Bahnen von Caroline Wahl gelesen. Ein Roman, der es in sich hat und tiefgründig von den Herausforderungen zweier Schwestern erzählt.
Es ist ein Buch, das nah geht. Ein Roman, in dem zwei Schwestern das Leben mit ihrer alkoholkranken Mutter meistern. Ein Roman, in dem sich insbesondere das jüngere Mädchen, nicht mal Teenager, rasant entwickelt und in dem es auch immer wieder um Verliebtsein und Liebe, Verantwortung und Freiheit geht. Schwere Themen, denn das Leben von Tilda und Ida ist rau – aber sie wissen die Lichtblicke zu nutzen und sich gegenseitig zu stärken.
Deshalb kann ich das, was Elke Heidenreich über 22 Bahnen schreibt, gut nachvollziehen: „Ein sehr authentisches, sehr dichtes, sehr nahes Buch. Ich habe es wahnsinnig gerne gelesen.“
Darum geht es in 22 Bahnen
Die 21-jährige Tilda lebt in einer Kleinstadt, arbeitet in einem Supermarkt. Neben ihrem Mathematikstudium kümmert sie sich um ihre alkoholabhängige Mutter und ihre jüngere Schwester Ida, um die sich die ältere Schwester sehr sorgt. Zu dritt bewohnen sie „das traurigste Haus in der Fröhlichstraße“.
Es ist ein festgefahrenes Leben, in dem für die Träume und Wünsche einer heranwachsenden jungen Frau wenig Platz scheint. Aber sie bewegt sich, denn sie schwimmt und das tägliche Schwimmen gibt Tilda das Gefühl, frei(er) zu sein. Und als sie, im Schwimmbad, ihren alten Schulfreund Viktor wiedertrifft, erhält ihr Leben neuen Schwung.
Viktor vermittelt Tilda Hoffnung und bringt sie dazu, sich ihren tief verwurzelten Ängsten und Sehnsüchten zu stellen.
Viktor nimmt im Laufe des Romans eine immer wichtigere Rolle ein. Er ist es, der sich um Tilda und Ida kümmert; er ist da, präsent. Viktor findet nicht immer die richtigen Worte, er schickt die Mädels auch mal weg, wenn es ihm zu viel wird, aber er kommt wieder. So wird er eine wichtige Konstante im Leben der Schwestern.
„In nur drei Tagen weggelesen“
Ich hatte das Buch – 2023 Lieblingsbuch des unabhängigen Buchhandels und mit gleich diversen Buchpreisen ausgezeichnet – gekauft, weil es mir eine Geschäftspartnerin, die beruflich viel mit Jugendliteratur zu tun hat, dringend empfohlen hatte. Ihre Worte: Sie habe es „in nur drei Tagen im Urlaub weggelesen und das passiert mir selten“.
Und da gerade auch mein Urlaub anstand, bestellte ich den Debütroman von Caroline Wahl. 30 Wochen stand dieser auf der Spiegel-Bestsellerliste – und wer es liest, wird sich zwischendurch wohl wie ich fragen: Wie werden es die Mädchen packen, oder:
Können sich die Mädels noch freischwimmen oder gehen sie unter?
Das Thema Schwimmen spielt in 22 Bahnen insofern eine große Rolle, als dass Tilda allabendlich ihre immer 22 Bahnen im Freibad zieht. Denn, so sagt es Caroline Wahl in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau:
„Das Schwimmen ist für Tilda etwas Meditatives. Beim Schwimmen muss man keine Gedanken formulieren, es gibt das Abtauchen, 22 Bahnen und fertig. Es ist wirklich etwas, in dem die Stimmen in ihrem Kopf verstummen, es ist ja ohnedies beim Gang ins Wasser so, dass man nicht mehr richtig hört, sondern Geräusche nur dumpf vernimmt. Es ist eine Art Meditation.“
Und es gibt so einiges, womit die Mädchen umgehen müssen. Vor allem die Mutter, die immer wieder mal ein paar Tage trocken ist, es ohne externe Hilfe jedoch nicht schaffen wird. Kostprobe aus dem Alltag der drei:
„Wir schauen zur Tür. Ida versteift und hält die Luft an. Sie hat es auch gehört: Mama hat getrunken, und zwar nicht wenig. Zuvor hat sie immer erst nach der Arbeit und nachdem sie bei uns gesessen hat, auf dem Balkon oder auf dem Sofa richtig mit dem Trinken angefangen. Ich schlucke, als ich sie grinsend in ihrem kurzen roten Kleid auf wackligen Beinen im Türrahmen stehen sehe. Natürlich wusste ich, dass es nur eine Frage der Zeit sein würde, bis es wieder eskaliert. Wenn sie so drauf ist wie die letzten Tage, ist sie eine tickende Zeitbombe. Aber heute tickt sie ganz laut. Ich beobachte sie, während sie sich zu uns setzt, ihre glasigen, geschminkten Augen, ihre geröteten Wangen, ihre verschwitzten Haare. Tick, Tack.“
Eine Geschichte über Hoffnung und Entwicklung
Caroline Wahl erzählt eine Geschichte über Entwicklung. Über die Hoffnung, in ein anderes Leben aufzubrechen, ohne das alte für andere zu zerstören. Und so bereitet sich Tilda umsichtig darauf vor, ihre jüngere Schwester loszulassen und sie vorab auszustatten mit dem, was sie für ihr Leben ohne große Schwester braucht.
22 Bahnen ist zudem eine gelungene Liebesgeschichte. Eine Geschichte, die auch Jugendliche gerne lesen werden. Deshalb empfiehlt es meine Freundin Doris, selbst Mutter von zwei Kindern und zwei Enkelkindern, insbesondere aus diesem Grund:
„Gerade jüngere Menschen erhalten in 22 Bahnen Einblick in verantwortungsbewusstes Leben und auch in die Zerrissenheit der Protagonisten.“
Die eigene Identität zu finden und gleichzeitig für die Herkunftsfamilie da zu sein – das ist der rote Faden in 22 Bahnen. Für mich war es ohfamoos, Tildas Weg zu folgen, nicht zuletzt auch deshalb, weil Caroline Wahl einen ganz besonderen Schreibstil pflegt. Und so freue ich mich auf Wahls zweiten Roman, der ein Spin-off des ersten ist: „Windstärke 17“ ist seit Frühjahr 2024 auf dem Markt.
Hier kannst Du mehr über 22 Bahnen – auch eine Kostprobe, gesprochen von Caroline Wahl selbst – erfahren.
Und hier findest Du weitere von uns oder anderen Autoren rezensierte Bücher.