Die außergewöhnliche Lina Morgenstern
Eine bedeutende Frau inmitten von Männern
Hochmodern muten die Errungenschaften von Lina Morgenstern (1830-1909) an. Sie war Volksküchen-Gründerin, Wohlfahrts-Unternehmerin, Zeitungsverlegerin, Bestsellerautorin, Vorkämpferin für Frieden und Emanzipation sowie fünffache Mutter. Kaum eine andere Frau des 19. Jahrhunderts hat so viele Wohltätigkeitsvereine erfolgreich organisiert. Kein Wunder, dass Gerhard Rekel sich dieser Persönlichkeit genähert und darüber ein Buch verfasst hat. Für ohoo beschreibt er, wie er Lina Morgenstern als Mensch und Unternehmerin einordnet.
Leidenschaftliche Unternehmerin
Im 19. Jahrhundert durften Frauen per Gesetz weder eine Firma noch einen Verein gründen. Lina gelang all das: Als Gründerin von 17 Volksküchen versorgte sie täglich 10 000 hungrige Menschen. Sie betreute mit ihrem Frauenteam an Berliner Bahnhöfen 300 000 aus dem Krieg von 1870 zurückkehrenden Soldaten: Freund und Feind. Danach initiierte sie über 30 „Wohlfahrts-Startups“, die sich um alleinerziehende Mütter, haftentlassene Mädchen, Prosituierte und andere Bedürftige kümmerten. Mit Zeitgenossinnen gründete sie von Friedrich Fröbel inspirierte Kindergärten und exportierte die Idee nach England. Hinter der Maske von Linas quirligem Humor verbarg sich die nervöse Unrast einer leidenschaftlichen Unternehmerin.
Liebesgeschichte mit vertauschten Rollen
Gegen den Willen ihrer Eltern heiratete Lina den um zwei Jahre älteren Theodor. Eine Liebesgeschichte mit vertauschten Rollen: Als ihr Mann mit einem exquisiten Modegeschäft in der Berliner Friedrichstraße in die Pleite schlitterte und die Familie mit fünf Kindern plötzlich brotlos dastand, schrieb sie in nur vier Wochen einen Bestseller: „Das Paradies der Kindheit“. Über 280 Seiten! Das Handbuch der Fröbel´schen Lehre erlebte sieben Auflagen, wurde in mehrere Sprachen übersetzt und stieß eine öffentliche Diskussion zum Thema gewaltfreie Erziehung an. Später verfasste sie das „Universalkochbuch für Gesunde und Kranke“ mit 2732 Rezepten und über 700 Seiten. Es entwickelte sich zum Welterfolg mit elf Auflagen und zahlreichen Übersetzungen. Weitere Bücher folgten.
Ein Journal ohne Mode, Klatsch und Tratsch
Um mehr Leser*innen zu erreichen, gründete Lina eine Zeitung. Ausschließlich von Frauen für Frauen. Darin veröffentlichte sie Hinweise, wie Frauen dem damals üblichen Lebensmittelbetrug zu erkennen vermochten, wie sie zu einer besseren Ausbildung gelangten und ihre Rechte einklagen konnten. Vor allem kämpfte Lina darum, dass Frauen zum Abitur zugelassen werden und Universitäten besuchen durften.
Lina entwickelte spezielle Strategien, ging mit heißem Herzen und kühlem Verstand bis an die Grenzen des Umsetzbaren. Bis heute gilt sie als eine der wichtigsten Sozialreformerinnen und maßgebliche Begründerin der ersten Frauen- und Friedensbewegung.
Aus einer wohlhabenden Breslauer Familie stammend brach Lina aus dem von ihren Eltern vorgegebenen Lebensweg aus: Statt sich zu vergnügen und das schöne Leben zu genießen, kämpfte sie für „das Gute“. Dabei definierte Lina „das Gute“ wie Immanuel Kant: „Gut ist derjenige Wille, der ausschließlich durch Gründe der praktischen Vernunft bestimmt wird und nicht durch Neigungen.“
Kongress mit 1700 Besucherinnen
In ihren frühen Jahren vertrat Lina das Motto: „Erst muss die Not gelindert werden, für politische Visionen bleibt immer noch Zeit.“ In der zweiten Hälfte ihres Lebens wollte sie Größeres bewegen, wurde politischer, denn ihr fiel auf: Die Not von über einer Million alleinstehenden Frauen ohne Arbeit nahm stetig zu. Ihre neue Idee: Der 1. Internationalen Frauenkongress auf deutschem Boden. Im Herbst 1896 empfing Lina zusammen mit ihren Kolleginnen über 1700 Besucherinnen aus der ganzen Welt im Berliner Roten Rathaus. 65 internationale Zeitungen berichteten neun Tage lang. Die Delegierten forderten das Wahlrecht für Frauen, Zugang zu allen Ausbildungen und Universitäten sowie die juristische Gleichstellung in Geschäftsangelegenheiten. Der Kongress schlug politische Wellen, bald darauf gaben sogar konservative Politiker zu, dass mehr für Frauen getan werden müsse.
Das Geheimnis ihres Erfolgs birgt zwei große Geheimnisse
Wie hat es die aus einer jüdischen Familie stammende Frau geschafft, trotz Anfeindungen von Antisemiten und Männerklüngeln ein humanistisches Lebenswerk zu hinterlassen, wie sonst kaum jemand? Was waren ihre Methoden, wie konnte sie sich durchsetzen?
Lina hatte zwei große Geheimnisse: Das ihrer unglaublich modernen Ehen und das ihres fulminanten Lebenswerks. Davon erzählt die Biografie „Lina Morgenstern – Die Geschichte einer Rebellin“, die auf über 700 Quellen beruht, viele davon neu entdeckt und erstmals veröffentlicht. Lina Morgensterns Geschichte ist eine, die Mut macht!
Wir danken Gerhard Rekel für seinen Beitrag über Lina Morgenstern, die ganz ohfamoos in unseren Gesellschaftsblog hineinpasst. Wer mehr über diesen Autor lesen mag, schaue gern in diese Rezension.
Gastautor Gerhard J. Rekel wurde 1965 in Graz geboren, wo er die Filmakademie Wien (Drehbuch & Regie) absolvierte. Er verfasste die Geschichten für mehrere TATORTe und realisierte als Regisseur Wissenschaftsdokumentationen für ARTE, ZDF und andere Sender. Sein Terra X – Film „Orient-Express – ein Zug schreibt Geschichte“ erreichte mehr als sechs Millionen Zuseher und wurde in Japan, Portugal, USA und weiteren Staaten gesendet.
Auch sein Buch über den Orient-Express findet man auf ohfamoos. Sein Buch über Lina Morgenstern wurde 2025 veröffentlicht. Mehr über ihn und seine Werke findest Du hier.
Fotos über Gerhard Rekel / Ingrid Götz