„Geht ja gar nicht!“
Sich aufregen macht Spaß. Es ist ein Zeichen sozialer Distinktion und dokumentiert den eigenen – überlegenen – Geschmack. Ein besonderes Phänomen ist aber das gemeinsame Aufregen.
Filterkaffee, weiße Socken, Krempelsakkos, Arschgeweihe, Liegefahrradfahrer oder in die Luft getupfte Anführungszeichen. Immer begleitet von einem augenrollenden „das geht ja gar nicht!“. Natürlich sind auch gemeinsame Aufreger dem Zeitgeschmack unterworfen. War der Vollbart vor zehn Jahren noch ein gemeinsamer Aufreger, ist er heutzutage ebenso inflationär wie werbefähig.
Zunächst einmal ist es doch so, dass Menschen dazu neigen, sich von anderen abzusetzen. Denn damit betonen sie ihre Eigenständigkeit und Unverwechselbarkeit. Kurz: ihre Individualität. Gerade in einem narzisstischen Zeitalter wie dem unseren, in dem jeder Profilierungswillige ein Star sein kann und seine Warhol’schen 15 Minutes of Fame beansprucht.
Diese Abgrenzungen vollziehen sich meistens über Meinungs- und Stilfragen. Und hier kommt der Aufreger ins Spiel. Indem ich mich über den vermeintlich schlechten Geschmack anderer aufrege, hebe ich mich aus der Menge heraus, bin ich im wörtlichen Sinne herausragend. Verblüffender Weise sind diese Codes häufig Marginalien, die für einen Außenstehenden nicht mehr nachvollziehbar sind. Ein Beispiel: Alle Studentinnen trugen diesen Winter Parka mit Pelzkragen. Einheitslook, könnte man meinen. Aber weit gefehlt! Der richtige Parka muss es sein. Je nach Peer Group der Parka von Bench, von Diesel, von Esprit – sonst Aufreger!
Geht ja gar nicht!
Mit dem gemeinsamen Aufreger ist die Abgrenzung und Profilierung natürlich sogleich dahin. Denn damit strebt man eher die Konformität, das Verschmelzen in der Masse an. Der Grund: Für die meisten Menschen gibt es nichts Schlimmeres, als aus der Gemeinschaft ausgestoßen, dissoziiert zu sein oder sich entsprechend wahrzunehmen.
Es ist ein Bestreben, nach Gemeinsamkeiten und Verbindungen zu suchen: nach Menschen, die mir ähnlich sind, die sich derselben Codes bedienen, die wissen, was gemeint ist. Das schafft ein fluffiges Gefühl der Zugehörigkeit und hat wahrscheinlich bei den Steinzeitclans schon genauso gut funktioniert wie heute.
Der gemeinsame Aufreger ist also die gelungene Synthese aus Individualismus, „ich hebe mich aus der Masse hervor“, und Konformität, „ich verschmelze mit den anderen“. Nur ist ja das Schöne am dialektischen Prinzip, dass es mit der Synthese nicht getan ist. Die Synthese mutiert wiederum zur nächsten These, die einer neuen Antithese den Weg ebnet. Es steht also zu befürchten, dass der gemeinsame Aufreger schon auf eine Metaebene gerutscht ist:
Leute, die „das geht ja gar nicht“ sagen – da könnt ich mich aufregen …
ohfamoos-Gastautorin Christine Mangold ist Textnomadin und lebt in Köln. Mal als Journalistin, mal als Werbetexterin unterwegs, beackert sie Bleiwüsten, bis blühende Landschaften entstehen. Privat bestellt sie Ihren Garten und ist Mutter einer Heerschar von Blumenkindern.
Photo: Pixabay.
Illu: Ela Mergels. www.elaela.de
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