Karneval ist elitärer Klüngel – 7 Vorurteile
Am 11.11 beginnt (nicht nur) der Karneval in Köln, die sogenannte fünfte Jahreszeit. Für die einen das höchste Glück auf Erden, für die anderen ein wahrer Albtraum. Aber warum schlägt dem „großen vaterstädtischen Fest“, wie es Karnevalsexperte und Gastautor Sven Hansel nennt, von manchen Zeitgenossen gleich derart viel Ablehnung entgegen? Hier sein Gastbeitrag, natürlich direkt aus der Domstadt.
„Vorurteile, nichts als Vorurteile. Das darf ich als Urkölner mit großer Leidenschaft für die kölsche Tradition direkt zu Beginn sagen. 7 davon findet Ihr hier:
Vorurteil 1: „Karneval, würg, dieses Lustig sein auf Knopfdruck. Is ja gar nix für mich“.
Alles hat seine Zeit. Am 24.12 sind wir besinnlich, zum Tanz in den Mai am 30. April schießen die Hormone ins Kraut und zum Muttertag bekommt das ansonsten vernachlässigte, putzende, bügelnde, kochende und treusorgende Muttertier seinen Strauß Rosen. Und ausgerechnet der Karneval soll hier tatsächlich aus der Reihe fallen? Nö, is klar! Konsequent sein hieße also, sämtliche der zumeist auf christlichen Riten beruhenden bundesdeutschen Feste und Feiertage zu ignorieren.
Vorurteil 2: „Iiiiih, Karneval, ich hasse diesen organisierten Frohsinn!
Fußball-Länderspiele sind Publikumsmagneten, mehr als eine Milliarde weltweit sehen die Spiele. Und auch hierzulande erreichte die deutsche Mannschaft bis zum Titel Traumquoten. Fußball ist ein Ereignis – aber das soll sich dann bitte selbst organisieren, oder was?
Ähnlich verhält es sich mit dem Karneval. Rund eine Million Menschen kommen allein zum Rosenmontagszug nach Köln. Und von liebevollen Kinderparties in Kitas über bodenständige Pfarrsitzungen bis hin zum gigantischen Straßenkarneval soll das alles ohne eine ordnende Hand funktionieren? Übrigens: Das gesamte Kölner Festkomitee arbeitet ehrenamtlich, ebenso die vielen tausend organisierten Jecken in den Vereinen. Und nur durch ihr Herzblut und mit ihrem Engagement machen sie es möglich, dass auch der alternative, sie eigentlich ablehnende, Karneval funktionieren kann.
Vorurteil 3: „Saufen bis zum Umfallen, pfui Deibel!“
Karneval ist feucht fröhlich. Alles andere zu behaupten wäre verlogen. Aber: Selbst ist der Mann/die Frau. Theoretisch kann man auch in El Arenal wohnen und eine Klettertour auf Malle machen. Ebenso verhält es sich mit der Trinkerei. Übrigens: Wer in einem der Kölner Traditionscorps alkoholbedingt über die Stränge schlägt, tut dies in der Regel nur einmal …
Vorurteil 4: „Sex, Sex, Sex und wilde Grabscherei …“
Männer lesen den Playboy wegen der Interviews und fahren solo nach Thailand des Klimas wegen. Genauso wie sich junge Frauen einen greisen Millionär aufgrund seines Charakters angeln, sich an Karneval als „Sexy Krankenschwester“ kostümieren und ihre primären Geschlechtsorgane betonen, als gebe es kein Morgen, nur weil die Kleidung ja so schön luftig ist. Und die Erde ist eine Scheibe.
Komischerweise treffen sich explizit paarungsbereite Großstädter an Karneval ausgerechnet in denselben einschlägig bekannten Kneipen. Was für ein Zufall …
Etwas anderes ist natürlich ungewolltes Befummeln oder sogar darüber hinaus gehendes Schlimmeres. Aber: So was ist, ähnlich wie Taschendiebstahl, nicht auf den Karneval beschränkt, sondern immer und überall dort ein Problem, wo viele Menschen, Alkohol und andere Rauschmittel und ausgelassene Stimmung aufeinandertreffen.
Vorurteil 5: „Halbwertzeit überschritten“
Die Einschaltquoten der Fernsehsitzungen haben mit Karneval so viel zu tun wie Düsseldorf mit guter Stimmung. Sprechen sie einmal mit den Verantwortlichen von Kölner Karnevalsvereinen über ihre Jugendarbeit. Anders als etwa Schützenvereine haben diese null Nachwuchsprobleme. In manche Lions-Clubs kommt man übrigens einfacher rein als in bestimmte Karnevalsvereine.
Vorurteil 6: „Karneval ist Klüngel und elitär“
Vergleicht man die Kölner Prinzengarde mit dem typischen Vorort-Karnevalsverein merkt man schnell, dass der Karneval – diplomatisch ausgedrückt – nuancenreich sein kann. Geschenkt. Allerdings: Im Kostüm sind alle gleich. Und wenn Sie einmal in die glänzenden Augen von Kindern aus armen Familien schauen, wie sie nach unzähligen – ich wiederhole mich gerne: ehrenamtlich organisierten und mit eigener Finanzkraft von den Vereinen gestemmten – Umzügen kiloweise voll bepackt mit gefangenen Kamellen und Spielzeug als Cowboys, Prinzessinnen und Piraten nach Hause fahren, dann wissen sie auch, dass dieses Vorurteil das zugleich dümmste ist!
Vorurteil 7: „Karneval ist rassistisch“
Der Chef des elitärsten Kölner Traditionscorps ist Italiener, bereits 1978 (sic!) hatte Recklinghausen mit Mehdi Noheh-Khan einen aus Persien stammenden Karnevalsprinzen und die primär von Migranten organisierte Kölner „Immisitzung“ („Jede Jeck ist von woanders“) ist regelmäßig ausverkauft. Kostüm ist in Wahrheit nämlich noch besser als Schuluniform, und mit fremdenfeindlichen Witzen konnte man beispielsweise im toleranten Köln sowieso noch nie punkten.“
Hättet Ihr’s gewusst?
Karneval ist geschichtlich sauber einzuordnen: Der Begriff „Karneval“ kommt aus Italien und leitet sich aus dem kirchenlateinischen „carnislevamen“ („Wegnahme des Fleisches“) ab. Dabei ist der Fleischverzicht ab Aschermittwoch nicht nur im Sinne des eigentlichen Verzehrs zu verstehen, sondern der Karnevalist soll dann auch seine weiteren fleischlichen Bedürfnisse im Zaum halten. Diese sollte er aber die fünf tollen Tage zuvor (und nur dann!) ausgiebig genießen, mit expliziter Genehmigung der Kirche übrigens. Denn die Kirche ließ dieses Dampf ablassen ausdrücklich zu – und fördert gar seit Jahrhunderten, dass die Faschingszeit als Ventil diente. Spaß auf Absolutionsbasis sozusagen.
- Die kirchlich geförderte Zerstreuung beschränkte sich nicht auf die Duldung exzessiven Alkoholgenusses und ausgiebigen Liebesspiels. Sondern auch in Richtung Obrigkeit dürfen die Jecken schon seit Jahrhunderten einmal nach Lust und Laune Dampf ablassen. Zähneknirschend geduldet von den Herrschenden und von der Institution Kirche explizit gefördert.
- Fazit: Karneval ist ein fleischliches Fest mit politik-kritischen Elementen, ein Event sozusagen, mit klarer zeitlichen Einordung wie bei anderen Festen auch.
Text: Sven Hansel
Fotos: Kölner Karneval (Startseite) und Barbara Siewer www.barbarasiewer.de (im Text)
Gastautor Sven Hansel ist nicht nur Wirtschaftsjournalist, sondern bringt als Urkölner auch eine große Leidenschaft für die kölsche Tradition und viel Wissen darüber mit. Er hat das Standardwerk über die kulturgeschichtliche Bedeutung der Büttenrede geschrieben, war mehrere Jahre lang Lokaljournalist und kennt einige originäre Zusammenhänge des Karnevals wie kein anderer.
Pingback:„Was Du wolle, Jeck?!“ | ohfamoos