Stören die Flüchtlinge die deutsche Idylle?
“Selbstzufriedenheit: Die Deutschen sind gefährlich satt” – so titelt der SPIEGEL vor zwei Wochen die Lage der Nation. “Wirtschaftswachstum, Jobs, schönes Wetter: Die Deutschen sind hochzufrieden, heißt es da. Parallel dazu lese ich eine Email der über 90-jährigen Oma meines Mannes und frage mich und Euch: Wann befassen wir uns mit dem Thema Flüchtlinge wirklich?
Die Spiegel-Story zeigt Menschen in der Lebensmitte, im bayerischen Biergarten. Ich bemerke ein dumpfes Gefühl in meinem Bauch: Medienberichte über Zuwanderung, Flüchtlingsheime und die damit einhergehenden Probleme stören offensichtlich die germanische Idylle. Meldungen über die zahlreichen Helfer kommen zwar langsam in die Medien, sind aber noch deutlich rar.
Läuten da bei Euch nicht auch die Glocken? Gerade mal 70 Jahre ist es her, als Deutschland selbst aus den Trümmern auferstanden ist. Haben wir vergessen, was es heißt einer ständigen Lebensgefahr ausgesetzt zu sein und mit Nichts in der Hand und im Magen überleben zu müssen? Vergessen der Schmerz und das Leid, das viele deutsche Familien durch unfreiwillige Trennung erfahren mussten? In den Hintergrund verdrängt wurden die Not und der Hunger, der die Deutschen im und nach dem 2. Weltkrieg in Verzweiflung handeln ließen. Wer hat damals nicht genommen, was er bekommen konnte?
Und genau davor haben wir Angst. Man könnte uns etwas nehmen, das wir uns hart erarbeitet haben.
Zurück zur Email der über 90-jährigen Oma meines Mannes (ja, Ihr lest richtig, eine Email). Darin erinnert sie sich an ihre eigene Flucht aus dem zerbombten Berlin 1944. Mir erscheint diese Geschichte so hochaktuell, dass ich sie teilen will; in der Hoffnung, dass wir nie vergessen, mit welchem Glück unsere Nation damals wieder zu sich gefunden hat.
“Vor 71 Jahren hing mein Leben, und das meines noch ungeborenen Kindes, oft am seidenen Faden. Ich war im sechsten Monat schwanger und die Luftangriffe auf Berlin wurden immer unerträglicher. Ich habe das Inferno nur ertragen, weil mein geliebter Mann noch an meiner Seite war. Er wurde erst im Oktober 1944 eingezogen. Nachdem wir das zweite Mal ausgebombt waren und kein Dach mehr über den Kopf hatten, bin ich nach Reichenau (Schlesien, heute Polen) gegangen. Mein Mann und ich haben uns sehr schweren Herzens getrennt. Es war auch wieder Glück im Unglück, dass meine Tante, die meinem Mann noch Zuflucht bieten konnte in Berlin-Borsigwalde wohnte. Mein Mann arbeitete in der Nähe und ein großer Luftschutzbunker war nur 5 Minuten entfernt. Das war alles Ende April 1944.
Am 20.04. hatte Hitler Geburtstag und da waren die Geburtstagsgrüße aus der Luft besonders reichlich und sehr herzlich. Am 15.07. ist dann meine Tochter in Sagan bei Sorau (Schlesien, heute Polen) geboren. Zweieinhalb Monate hatten „Wir“ ein sehr schönes ruhiges Leben auf dem Lande. Kein Fliegeralarm, kein Feuersturm, kein Brandgeruch, der ständig über Berlin hing – sondern nur frische Luft. Mein Mann konnte mich auch am Wochenende besuchen – einmal im Monat- und als ich dann mein gesundes Kind im Arm hatte, war alles Schlimme vergessen.”
Unsere 90-jährige Großmutter und Ur-Großmutter kennt Armut, Krankheit und Verzicht. Trotz des grausamen Krieges, den sie in allen Einzelheiten miterlebt hat, ist ihr Leben reich, erfüllt und sie strahlt noch heute voller Glück und Enthusiasmus. Ohne den Schutz ihrer Familie und vielen helfenden Freunden und Fremden wäre sie, wie so viel andere, sicherlich nicht so weit in ihrem Leben gekommen.
Wie steht es um Eure Nächstenliebe?
Text: Oma Marianne und Melanie Blankenstein
Foto: privat (Oma Marianne 1944) und pixabay (Berliner Mauer)
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