Elternaufstand: Hauen Familien jetzt richtig auf den Tisch?
Kein Kita-Streik, aber der Elternaufstand tritt bald „in die heiße Phase“? Das prophezeit Dr. Jürgen Borchert, fast 30 Jahre Richter am Hessischen Landessozialgericht. Der kämpferische Mann arbeitet aktuell an der Ausformulierung einer Verfassungsbeschwerde, hat sich dafür sogar wieder eine Zulassung als Rechtsanwalt geben lassen. Für Borchert ist Kindergeld „Rückgabe von Diebesgut“, er sagt, der Gesetzgeber treibe „Hütchenspiele“. Familien würden „durch die Sozialgesetzgebung um die Früchte ihrer Erziehungsarbeit betrogen“. Ohfamoos fragt nach: Werden wir wirklich „nach Strich und Faden belogen“?
Herr Borchert, die zwei größten deutschen Familienverbände, der Deutsche Familienverband und der Familienbund der Katholiken, fahren derzeit eine beispiellose Kampagne für familiengerechte Beiträge in den Sozialversicherungen. Sie sprechen vom Elternaufstand – was haben wir verpasst?
Jürgen Borchert: 2001 hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass die Zukunft der Pflege-, Renten-, und Krankenversicherung nur durch Kinder gesichert und Eltern deshalb mit der Kinderziehung einen Beitrag leisten, der mindestens so viel wert ist wie Geldbeiträge. Das Gericht hat die Politik aufgefordert, die Elternbeiträge deshalb zu ermäßigen. Dabei geht es um viel Geld, mindestens 200 Euro pro Kind pro Monat. Geschehen ist aber nichts. Das lassen sich immer mehr Eltern nicht mehr bieten und klagen mittlerweile in Massen.
Sie nennen das Familienausbeutung. Was meinen Sie damit?
Eltern müssen für Kinder jede Menge Opfer bringen, haben aber umso geringere Renten, je mehr Kinder sie haben. Die vergleichsweise hohen Renten Kinderloser, die zu 100 Prozent die Kinder anderer bezahlen, sind die Kehrseite der dramatischen Familienverarmung.
„Wer selbst keine Kinder großzieht, baut seine Zukunft also auf die Kinder anderer Leute.“
Stellen Sie dadurch Kinderlose nicht zu sehr in die Ecke?
Ich sehe das schlicht ökonomisch: Familien geraten mit zwei Kindern schon bei Durchschnittseinkommen in die Armutsfalle – DAS ist doch der Punkt. Und zwar wegen der hohen Sozialabgaben. Der Anteil lebenslang Kinderloser hat sich in den letzten 50 Jahren aber mehr als verdoppelt, beträgt jetzt rund 30 Prozent und wächst weiter. Da noch die steigende Lebenserwartung hinzukommt, entsteht ein riesiges Versorgungs- und Gerechtigkeitsproblem.
„Im Übrigen sind im ökonomischen Sinn alle ohne aktuelle Unterhaltspflichten kinderlos, insbesondere die Eltern erwachsener Kinder. Ich gehöre ja auch dazu. Mit Biologie hat das gar nichts zu tun.“
Wenn alles so offensichtlich ist: Warum haben Familien nicht früher reagiert, sondern lassen sich, wie Sie sagen, „von legislativen Hütchenspielern übers Ohr hauen“?
Wenn man betrogen wird, ist man immer erst hinterher schlauer. Die Politik hat immer so getan, als ob sie die Spendierhosen anhätte. Aber als sie vor zwei Jahren das Märchen von den 200 Milliarden Familienförderung erzählte, haben viele Familien ins Portemonnaie geguckt und gemerkt, dass da ein Riesenbetrug läuft.
Wir wollen hier keine Politikverdrossenheitsdebatte führen, aber einige „der“ Politiker haben doch auch Kinder: und die zahlen brav und merken nix?
Kinderlose sind in den Parlamenten und in hohen politischen Ämtern überrepräsentiert, denken Sie zum Beispiel an Angela Merkel und Gerhard Schröder. Und wenn Sie von Abgeordneten sprechen: Die sind meist nicht sozialversichert. Auch Beamte und die nach beamtenrechtlichen Grundsätzen versorgten Berufsgruppen wie zum Beispiel ich als Richter, sind von dem Desaster nicht unmittelbar betroffen. Das ist auch einer der Gründe, warum wir immer noch ein Sozialsystem haben, das inzwischen mehr schadet als nützt. Die privilegierten Berufsgruppen würden sich das nicht bieten lassen.
Warum schlagen Politiker nicht wenigstens jetzt Kapital aus diesem Thema?
Das Thema ist ein einziges Desaster, da ist kein Blumentopf zu gewinnen.
„Politisch haben wir es mit einem Selbstmordthema zu tun. Soziale Systeme, die aus dem Gleichgewicht geraten sind, pendeln nicht wie biologische Systeme von selbst ins Gleichgewicht zurück, sondern geraten immer mehr in Schieflage.“
Inzwischen macht der Anteil der Haushalte mit kindergeldberechtigten Kindern weniger als ein Fünftel aus. Das heißt, Familien verlieren auch als Wähler dramatisch an Gewicht.
Wie geht es weiter, was ist Ihre Hoffnung?
Gottseidank hat unser politisches System ein Gleichgewichtsorgan, das nicht auf Wählerquantitäten Rücksicht nehmen muss: Das Bundesverfassungsgericht. Deshalb der Elternaufstand! Denn in Deutschland entwickelt sich im Zuge der wachsenden Kinderlosigkeit ein riesiges Gerechtigkeitsproblem.
Das Bundesverfassungsgericht richtet, was die Politik nicht schafft?
Es hat die Macht, das Recht und die Pflicht, die Politik zu Reformen zu zwingen. Darauf baut meine Hoffnung – und dafür braucht es so viele Kläger wie nur irgend möglich! Bisher haben wir immer nur einzelne Musterverfahren geführt, da haben wir zwar gewonnen, aber die Politik hat das nicht ernst genommen.
Sie melden sich oft zu Wort, jüngst mit dem Buch „Sozialstaatsdämmerung“. Was tun sie selbst weiter?
Derzeit arbeite ich an der Ausformulierung einer Verfassungsbeschwerde für all die, die am Elternaufstand teilnehmen. Dafür habe ich mir wieder eine Zulassung als Rechtsanwalt geben lassen. Ein Schwerpunkt der Beschwerde wird der Irrsinn des Pflegevorsorgefonds bei der Pflegeversicherung sein, der eingerichtet wurde, um die enormen „demographischen“ Lastenzuwächse abzufedern, mit denen wir es in 20 Jahren zu tun bekommen und …
… den sie ökonomisch als völlig unmöglich bezeichnen.
Richtig, aber noch wichtiger ist: Eltern und Kinderlose zahlen dafür denselben Beitragssatz, obwohl die „demographische Entwicklung“, also der rasante kollektive Alterungsprozess mit all seinen Problemen, zu mehr als zwei Dritteln auf Kinderlosigkeit beruht.
Das macht Sie richtig wütend!
Und wie! Im Klartext bedeutet das doch:
„Eltern sollen für die Folgen kinderloser Lebensentwürfe haften! Verfassungswidriger und asozialer geht es nicht.“
Denn das geht ja immer zu Lasten der Kinder dieser Eltern.
Was motiviert Sie immer wieder aufs Neue nicht lockerzulassen?
Massive Ungerechtigkeiten konnte ich noch nie ertragen, weder bei mir noch bei anderen. Und weil ich weiß, dass Kinderarmut eine Katastrophe ist, weil sie die Bildungsfähigkeit und damit unsere Zukunft beschädigt.
Vielen Dank für das Gespräch!
Wusstet Ihr:
- Dass jetzt im September das Bundessozialgericht drei Musterverfahren mit Signalwirkung entscheiden wird? Inzwischen sind hunderte Anträge auf Beitragsreduzierung bei den Krankenkassen eingegangen, dutzende Eltern klagen vor den Sozialgerichten.
- Tausende von Familien haben sich nun der Kampagne “Wir jammern nicht, wir klagen!”
Das Interview führte Elke Tonscheidt.
Foto: privat
Illu: Ela Mergels
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