Ungarn und Flucht – da war doch mal was
Wie ist das, wenn man als kleiner Junge Pate wird, und dann auch noch für ein Flüchtlingskind? Ohfamoos-Gastautor Thomas Rietig hat das erlebt. In diesen Tagen, wo in Deutschland die Flüchtlingsdebatte jeden betrifft, kommen diese Erinnerungen hoch: Auch die Ungarn hatten einmal gute Gründe, aus ihrem Land zu fliehen.
Einst zog ich gegen meinen Willen von der Weltstadt Minden in das Provinznest Frankfurt am Main. Dort kam ich in die zweite Klasse der Grundschule. Die Klassenlehrerin, eine Frau Haas, fragte mich, ob ich Pate für einen anderen Jungen sein wolle. Er sei aus dem Ausland gekommen und ein Flüchtling.
Ich war noch nie im Ausland gewesen und wusste nicht, was ein Flüchtling ist. Meine Eltern erzählten mir etwas von meiner Großmutter, die „damals“ ausgebombt worden und dann auch geflüchtet war. Sie hatte in Minden mit in unserer Wohnung gelebt.
Und Pate? Ich hatte eine Patentante und einen Patenonkel, die waren viel älter als ich, zu denen schaute ich auf. Deshalb war ich ein bisschen stolz, weil: Offenbar war Verantwortung gefragt, und mir traute man es zu. Mit sechsdreiviertel Jahren war ich ja auch schon so gut wie erwachsen. Falls seine Eltern oder sonst wer beim Beschützen dieses ausländischen Flüchtlingsjungen versagen würden, hätte ich eben ran müssen. Bis dahin sollte ich ihm erst mal bei eventuellen Deutschschwächen helfen und falls er sich sonst in der Schule oder der Welt an sich nicht zurechtfand.
Ich sagte also zu. G. und ich saßen von nun an in der Schule nebeneinander, bis unsere Ausbildungswege sich wegen der wohnortbedingten Verteilung auf verschiedene Gymnasien trennten: „Goethe“ (er) und „Liebig“ (ich), eine ewige Rivalität, die Leute aus dem Frankfurter Westen wissen, was ich meine. Aber erst einmal wurden wir „beste Freunde“.
G. kam aus Ungarn, und mit der Zeit erfuhr ich, dass es dort einen Aufstand gegen die Kommunisten gegeben hatte, der mit Waffengewalt niedergeschlagen worden war. Seine Familie hatte fliehen müssen. Die Kommunisten sanken in meiner Achtung, denn G. war ein echt netter Junge. Seine Eltern und seine drei Geschwister waren auch nicht nur nett, sondern gastfreundlich. Exotisch für mich: Sie waren streng katholisch, feierten so etwas wie Namenstag, kannten Heilige und gingen regelmäßig in die Kirche. G. hatte mal eine schwere Nierenentzündung und fuhr nach Lourdes, um um Heilung zu bitten. Ob er daran wirklich geglaubt hat – ich weiß es nicht.
Um seine Geschwister – zumindest um den jüngeren Bruder, die zwei Mädchen waren mir eher unheimlich – beneidete ich G. ab und zu. Denn ich war Einzelkind. Aber wenn mir dann einfiel, dass sich Mädchen und Jungs je ein Zimmer der Sozialwohnung in der Postsiedlung teilen mussten und in diesem Zimmer eigentlich außer Betten und Schrank keine Möbel standen, während mein Zimmer stehkragenvoll mit Spielzeug war, hielt sich mein Neid doch wieder in Grenzen.
Woran ich mich noch erinnere, war, dass meine und seine Eltern eher wenig miteinander anfangen konnten, obwohl die Kinder eigentlich ständig zusammenhingen.
G.’s Vater, ein Ingenieur bei Hartmann & Braun oder VDO – so genau weiß ich das nicht mehr – kaufte den Kindern jedenfalls drei Fahrräder. Mit denen erkundeten wir die Umgebung, erlebten Abenteuer auf den damals zahlreichen Baustellen im Frankfurter Westen aber auch in den Wäldern und an der Nidda. Als das alles erkundet war, wandten wir uns dem anderen Geschlecht zu. Nein, halt, vorher noch der elektrischen Eisenbahn. G. hatte Trix, ich hatte Märklin (damals auch so eine Rivalität, aber sie trübte das Verhältnis nicht).
Ich erinnere mich noch an eine Party in der Wohnung, für die seine Eltern sogar das Bett aus dem Schlafzimmer geräumt und dadurch eine Tanzfläche geschaffen hatten. Zu dem Zeitpunkt hatten die Umstände uns aber schon weit auseinander gebracht, ohne dass das aber mit Ärger oder Streit verbunden gewesen wäre. Schließlich studierte er Medizin, ich Sprachen. Und das war es dann. Patenschaft erfüllt. Beide gingen verschiedene Wege.
In diesen Tagen ist mir diese Zeit wieder in Erinnerung gekommen. Auch die Ungarn hatten einmal Gründe, aus ihrem Land zu fliehen.
Thomas Rietig ist Journalist in Berlin. Zunächst arbeitete er als Lokalredakteur in Frankfurt am Main, dann in Bonn und Berlin fast 30 Jahre als Korrespondent, Reporter, Hauptstadtbüroleiter und stellvertretender Chefredakteur für den Deutschen Dienst der Nachrichtenagenturen Associated Press und der dapd. Seit die 2012 pleite ging, ist er freier Journalist und Autor. Eines seiner Spezialgebiete ist Verkehrspolitik.
Foto: privat und pixabay
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