Abendland
Wenn dieser Begriff fällt, flüchten sich die Gedanken von Dieter Fuchs unwillkürlich über mehr als ein halbes Jahrhundert zurück in seine Kindheit. Für ohfamoos beschreibt der Gastautor, wie wohlig ihm in der Adventszeit als Kind zumute war und wie sehr ihn heute die Wirklichkeit einholt, wenn er an PEGIDA denkt.
Kindheit, das sind für mich jene Erinnerungen, in denen das Wort mich nicht an das hässliche „A“ in PEGIDA denken lässt, sondern an das große, herrliche „A“ auf dem Adventskalender. An die in vieler Hinsicht schwere Nachkriegszeit, als die kleinen Schokoladentäfelchen hinter den Pappkartontürchen mir das schier endlos lange Warten auf Weihnachten versüßten, auf die glitzernden Kerzen in der dann wohlig warm beheizten Guten Stube, auf den Festtagsbraten und die Kuchen und auf die warme, herzliche Umhüllung durch die vielen Tanten und Onkel mit ihren lang ersehnten Geschenken.
Das Abendland war etwas Behütendes. Magisch vervollständigt durch das Morgenland mit jenen seltsamen drei Weisen und ihren exotischen Gaben.
Irgendwann durfte ich dann lernen, dass die beiden Begriffe aus dem Mittelalter stammen, als man noch glaubte, die Erde sei eine Scheibe. Und am Morgen ging eben an der Kante im Osten die Sonne auf, welche am Abend am westlichen Rand der Scheibe wieder verschwand.
Etwas später aber wurde es kompliziert für den kindlichen Verstand. Beim verbotenen nächtlichen Lesen unter der Bettdecke, im Schein einer kleinen Taschenlampe, entführten mich die Helden meiner Abenteuerbücher in ferne Länder und ich begriff, dass die Erde bunt und rund war. Und dass das mit dem Osten und Westen, mit dem Abend und dem Morgen ganz schön verwirrend sein konnte. Dann lagen also für die Inder die Wüsten Arabiens im Abendland, so wie auch Indien aus Sicht der Chinesen? Und für die schottischen Highlander waren wir in Europa die im Morgenland?
Seltsam war es dann auch irgendwann zu begreifen: Die Gaben der Weisen aus der Fremde bestanden aus viel mehr als aus den in der Weihnachtsgeschichte symbolhaft genannten Kostbarkeiten.
Aus dem Orient brachten sie uns einst die Mathematik, die Kunst der Medizin und die Weltsicht der Astronomie – also wissenschaftliche Erkenntnisse und Sichtweisen, die frei von religiösen Dogmen waren und unseren Weg heraus aus dem dunklen Mittelalter ins aufklärende Licht begleiteten.
Und immer, wenn meine Gedanken dann heute an diese Stelle gelangen, holt mich die Wirklichkeit leider wieder ein: Das andere „A“. Und ich sehe die dumpfen Scharen, die unter mittelalterlichen Insignien von Standarten und zu Galgen verwandelten Kreuzen das Abendland schützen wollen, vor dem Fremden warnen und grölend im Stechschritt ihren (An- und Ver-)Führern in den Abend nachmarschieren…
… wie die Lemminge …
… und dann denke ich plötzlich, verträumt lächelnd, dass es vielleicht ganz schön wäre, wenn unsere Erde für einen kurzen, gut abgepassten Moment doch einmal zur Scheibe mit einem Abgrund am rechten Rand würde!
Dieter R. Fuchs liebt die Vielfalt und das Leben. Nachdem ihn sein bewegtes Berufsleben als Forschung-Manager und Wissenschaftler fast durch die ganze Welt geführt hat, genießt er es nun im Ruhestand in München, seine Erfahrungen und Begegnungen literarisch aufzuarbeiten und andere hieran teilhaben zu lassen. Was für ihn neben der Partnerschaft mit seiner Frau Ulla wertvoll ist: Fremde Kulturen, Kunst und ein immer wieder neu belebender Austausch mit Menschen aus der ganzen Welt!
Text: Dieter R. Fuchs
Foto: @pixabay
Danke, Dieter Fuchs, für diesen guten, vorweihnachtlichen Beitrag!