Wir teilen uns zu Tode – Leid zwischen Fun-Videos und Selfies
Neulich stieß unser Gastautor Sven-Erik Tornow auf ein Video eines Mannes, der seine beiden toten Kinder in den Armen hielt und beweinte. Amateurhaft mit dem Handy aufgenommen. Völlig unvermittelt traf ihn das Leid dieses Mannes. Seine Schreie, sein Schluchzen, seine Trauer. Facebook gab dem Elend ein menschliches Gesicht. Für ohfamoos schreibt Sven auf, wie ihn das getroffen und berührt hat.
Für einen Moment konnte ich nicht einfach so weitermachen. „Geteiltes Leid ist halbes Leid“, sagt der Volksmund.
Aber stimmt das tatsächlich noch in Zeiten von Facebook, Twitter & Co.? Teilen ist zur Mode geworden. Zum Sidec(l)ick des Alltags. Alles wird heute geteilt. Da muss die Frage erlaubt sein, wo die Grenze ist. Das Bild von Aylan Kurdi, dem toten Jungen am türkischen Strand war genau so ein Grenzbereich. Hier schieden sich die Geister im Social Media. Selbst die des Boulevard-Journalismus. – Darf man so etwas zeigen? Zwischen Schmink-Tipps, Fun-Videos und Selfies?
Die Frage muss erlaubt sein. Warum teilt man? Um Leid zu halbieren? Hatte der Vater von Aylan etwas davon, dass diese Bilder durchs Web geteilt wurden? Auf jeden Fall eins, viel kontroversen Ärger am Hals. Neil Postman hat schon in den 80ern von der Sinnentleerung der Botschaften gesprochen. Wäre es jetzt nicht Zeit für ein neues Buch von ihm: „Wir teilen uns zu Tode“? Denn Teilen ist tatsächlich mehr Mode denn Leidhalbierung. Dem Voyeurismus sind keine technischen Grenzen mehr gesetzt. Waren es zu Print-Zeiten noch die Redaktionsleitungen, die über Bilder entschieden, entscheidet heute vor allem der Kick, Erster zu sein. Und möglichst häufig „geliked“ zu werden.
Ist nicht die Verfügbarkeit aller Internet-Inhalte zugleich auch der Wegfall einer moralischen oder irgendwie sonst verankerten Selbstkontrolle? Pornovideos auf den Handys der Schulkinder, Videos von Prügeleien und Mobbing, Stalking mit intimen Bildern von verlassenen Partnern – die Grenzbereiche des Teilens wurden schon vielfach getestet.
Aber nun scheint eine neue, eine weitere Dimension hinzugekommen sein. All die Bilder, die wir nicht in den Tagesthemen oder dem heute-journal, in der Zeitung oder im Wochenmagazin finden, die treffen wir jetzt plötzlich und unerwartet im Netz.
Ist dies der richtige Rahmen für die Auseinandersetzung mit dem Leid anderer? Darf man das mit diesen teilweise krassen Bildern und Videos? Sind wir auf der Empfängerseite mittlerweile so abgestumpft, dass uns nur noch „harter Stoff“ rührt? Den meisten Nutzern steht ja die ganz persönliche Begegnung mit dem Tod noch bevor. Dem Tod der Großeltern oder die Eltern, die sterben werden. An deren Totenbett man plötzlich steht und den Tod ganz anders spürt. Leichen gesehen haben die meisten Onliner wahrscheinlich schon ganz viele. Aber berührt wohl eher wenige. Von ihrem Ableben direkt berührt wurden wohl ebenso wenige.
Es ist und bleibt das alte Thema in neuen Gewändern. Unsere Gesellschaft hat Leid und Tod ausgeklammert. Abgeschoben in Alten- und Pflegeheime, in Hospize und Krankenstationen. Die einen sind noch zu jung, um sich mit Leid und Tod zu beschäftigen, die anderen noch zu vital.
Leid kommt einfach nicht vor, in der schönen heilen Konsumwelt. Dafür aber umso mehr in der realen. Einer der ältesten und bekanntesten Leidteiler war Ijob. Sein Leiden, im Alten Testament beschrieben, riss ihm den Boden unter den Füßen weg. Er teilte es mit seinen drei Freunden. Alles zeitgemäß nur mündlich. In persönlichen Gesprächen.
Das macht wohl auch den Unterschied. Ijob entschied selbst, dass er sein Leid teilen wollte. Und er tat es in einem geschützten Setting, dem Gespräch unter Freunden. Hier lässt sich Leid nicht nur teilen, sondern tatsächlich auch halbieren. Gleichzeitig ist Leid heute Teil unseres Seins. Deshalb hat es auch seinen Raum in Facebook, Twitter und Co. Denn uns steht in den sozialen Medien der direkte Dialog zur Verfügung. Hier kann man Stellung beziehen. Zum geteilten Leid und zur Art, wie es geteilt wurde. Aus dieser Perspektive ist das Leid teilen richtig und gut. Es lässt uns, lässt mich innehalten. Aufmerken, auf das Leid, das tagtäglich geschieht. Das zum Leben gehört, auch zu meinem. Und ob ich selbst dann solch ein Bild oder Video wieder teile, entscheide ich momenthaft.
Manchmal möchte ich meine Traurigkeit auch einfach für mich behalten.
ohfamoos-Gastautor Sven-Erik Tornow lebt mit seiner Familie in Köln. Als Journalist, Fotograf und Autor widmet er sich technischen Themen, als Schriftsteller haucht er den Worten Leben ein. Kochen und Lesen sind seine Leidenschaft. Über alles andere hüllt sich der Mantel des Zweifels.
Text: Sven-Erik Tornow
Foto: photocase.com
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