Harald Welzer: „Angela Merkel hat Zeit. Es gibt keinen Atomschlag!“
Was für eine Gesellschaft wollt Ihr sein? Das ganze Land soll reden, am besten die Menschen gleich miteinander – anstatt sich vor dem Fernseher oder im sozialen Netz aufzuregen. Meint der Soziologe und Sozialpsychologe Harald Welzer, der aktuell die Debattenaktion Die offene Gesellschaft unterstützt, kürzlich zum Beispiel im Schauspiel Frankfurt mit Richard David Precht. Im Interview mit Elke Tonscheidt bezeichnet er das Gerede von der kippenden Stimmung als „völlig schwachsinnig“, lobt Angela Merkel und sagt: „In unserem Alltag ist das Flüchtlingsthema doch überhaupt nicht präsent. Das ist ein unglaubliches Phantasma, das da aufgebaut wird.“
Sie haben die bundesweite Debattenaktion Die offene Gesellschaft angestoßen, um möglichst vielen Leuten ein Forum zu geben sich darüber auszutauschen, wie sie in Deutschland leben wollen. Wie viele Menschen kommen?
Harald Welzer: Pro Veranstaltung 100-700 Menschen, die Teilnehmerzahl insgesamt ist sicher schon fünfstellig. Und immer kommen mehr als gedacht. Bemerkenswert dabei ist nicht nur die schiere Anzahl, sondern auch, dass es immer eine sehr zivilisierte Diskussion ist.
Kontroverse Meinungen werden also zugelassen?
Es gab bislang keinen einzigen Eklat. Es geht nie aggressiv, im Gegenteil sehr angenehm zu.
Pegida-Auffassungen werden nicht niedergebrüllt, man geht darauf ein, dann geht die Diskussion in eine andere Richtung weiter.
Übrigens dialogisch, also man sondert nicht nur ab, was man immer schon mal sagen wollte.
Was lernen Sie dabei selbst?
Das Thema, welches Land und welche Gesellschaft man sein will, treibt die Leute sehr um. Sie wissen, dass es nicht unbedingt einfach ist und „Eia Popeia Multikulti“, sondern dass Integrationsfragen mit vielen Problemen verbunden sind. Und mehrheitlich wollen sie eine Gesellschaft, die diese Vielfalt akzeptiert und sich den damit verbundenen Mühen unterzieht.
Sprich, die Stimmung, von der manche behaupten, sie kippe nun, ist stabil im Sinne von: Wir helfen gern, wir machen weiter mit?
Die Bevölkerung ist natürlich nicht homogen. Es kommt immer drauf an, mit wem man spricht.
Die Rede von der kippenden Stimmung – das fing im Herbst ja schon an – finde ich völlig schwachsinnig
Es gibt Leute, die von vorneherein die Augenbrauen hochgezogen haben; andere, die aus Fremdenangst alles total fürchterlich finden. Mir scheint aber, der überwiegende Teil glaubt, das Thema bewältigen zu können.
Unter den letzteren Teil fallen auch die vielen engagierten Helfer…
Genau, und warum soll da die Stimmung kippen? Natürlich beklagen viele die Zusammenarbeit mit den Verwaltungen vor Ort als katastrophal. Andere warten viel zu lange, bis sie z.B. eine Vormundschaft für einen unbegleiteten Jugendlichen bekommen. Aber das ist etwas völlig anderes.
Die Behauptung, politisch kippe die Stimmung, ist für mich herbeigeredet. Das ist politisch verantwortungslos.
Sie kritisieren höchst aktionistisch agierende Politiker, die permanent so tun als hätten sie Lösungen. Die es aber ihrer Meinung nach gar nicht geben kann. Verstehe ich Sie richtig, dass erst mal „nur“ reden hilft?
Nein. Aber WIR reden – und tun damit das, was die Politik nicht macht: In Form von Townhall-Debates die Bevölkerung und sich selbst wechselseitig aufzuklären. Das gehört zu einer Demokratie dazu. Die Regierung versäumt zu erklären, was die nächsten Schritte sind. Damit wäre das Thema natürlich noch nicht erledigt. Davon unabhängig müssen konkrete Maßnahmen von Verkürzung der Wartezeiten bis hin zum Wohnungsbau angegangen werden. Reden allein nützt da gar nix, aber das sind andere Zuständigkeiten. Wovor ich warne, ist diese Schwachsinns-Idee, Integrationsprozesse seien eine Frage von Monaten und müssten jetzt gelöst werden.
Sondern?
Das dauert 20 bis 25 Jahre, bis so ein Prozess erfolgreich abgeschlossen ist. Das heißt, alle sollen mal nicht so nervös sein. Das ist doch eine völlig infantile Perspektive.
Welche Politiker verhalten sich der Situation angemessen, also integrationsfördernd?
Ich finde die Position der Kanzlerin ganz hervorragend und verfassungsmäßig geboten. Auch viele Oberbürgermeister, Landräte oder Amtsleiter vor Ort machen sicher einen hervorragenden Job.
Und wie kann ich die als Bürger stärken?
Wie Sie es als Mitglied eines politischen Gemeinwesens immer können. Über den Gemeinde- oder Stadtrat versuchen, Einfluss auf die Politik zu nehmen, direkt vor Ort helfen, sein Kreuzchen entsprechend bei der nächsten Wahl machen oder, wie Sie es machen, mit einem Blog Meinungsforen bilden und private Gespräche über diese Themen führen.
Apropos Meinungsforen: Klinkt man sich ins Netz ein, sieht man einen „riesigen Müllhaufen nicht belastbarer Meinungen“, wie Sie mal gesagt haben. Wie geht man damit um?
Ich finde das vollkommen unmaßgeblich. So wie das, was früher am Stammtisch geredet wurde. Das ist weder geprüft noch seriös noch von Bedeutung.
Also ausblenden?
Man kann damit umgehen, wenn man das möchte. Das sollte aber unsere Verkehrsformen untereinander nicht tangieren.
Sie sagen, Deutschland ist so mächtig, dass wir es mit Gelassenheit schaffen. Sie führen diverse Wellen großer Flüchtlingsbewegungen an, die im Sinne der Integration relativ gut gelaufen seien, wenn man sich Zeit gibt. Hat Angela Merkel die?
Ja, was denn sonst?
Wir haben doch keinen Atomschlag, es ist auch kein Krieg ausgebrochen oder eine Massenepidemie, wir haben keine Weltwirtschaftskrise. Ich weiß überhaupt nicht, was die Leute da draus machen.
Es sind jetzt eine Million Menschen gekommen, in Relation zur Bevölkerungsgesamtheit sind das ein bisschen mehr als ein Prozent: Worüber reden wir hier??
Über Stimmen, die meinen, es sei nicht zu schaffen; und je nachdem, wo man hinhört, sind die sehr laut …
Wenn Sie sich in den konkreten sozialen Umfeldern umtun, dann haben viele Leute die Erfahrung mit einem Flüchtlingsheim in ihrer Nähe und ansonsten haben sie die Erfahrung damit, den Knopf beim Fernsehen zu drücken. Dort sehen sie dann Meldungen – aber in unserem Alltag ist das Flüchtlingsthema doch überhaupt nicht präsent. Das ist ein unglaubliches Phantasma, das da aufgebaut wird.
Das regt Sie richtig auf!
Ja, wovon redet man nur, wenn man sagt, es sei nicht zu schaffen?! Dafür habe ich überhaupt keine Worte. Selbst wenn man unmittelbar Erfahrungen durch ein Flüchtlingsheim vor Ort macht, sind die Erfahrungen dort doch total vielfältig. Von massiven Problemen bis hin zur Überraschung, dass es gar keine gibt.
Das Leben ist das Leben und das ist bunt. Jetzt wird es bunter, aber das rechtfertigt doch keine Hysterie.
Was raten Sie den Deutschen jetzt am allermeisten?
Sich zu beteiligen! Um damit wie die vielen, vielen ehrenamtlichen Helfer zu erfahren, wie es ist, Dinge selber in die Hand zu nehmen. Wie man gemeinsam mit anderen wirksam wird, anstatt vor dem Fernseher zu sitzen und sich aufzuregen.
Harald Welzer ist Mitbegründer und Direktor der gemeinnützigen Stiftung „Futurzwei“, die versucht alternative Lebensstile und Wirtschaftsformen aufzuzeigen. Er ist Professor für Transformationsdesign an der Europa-Universität Flensburg und lehrt Sozialpsychologie an der Universität Sankt Gallen. Mit initiiert hat er auch Die Offene Gesellschaft.
Und das finden wir richtig ohfamoos!
- Die Initiative offene Gesellschaft wurde von zwei Initiatoren angestoßen, neben Harald Welzer von Futurzwei von Alexander Carius, adelphi, einer unabhängigen Denkfabrik. Wir finden das so spannend, dass wir derzeit selbst versuchen, eine in NRW auf die Beine zu stellen: Wer möchte mit machen?
Fotos: Jessica Schäfer und Thomas Langreder