ungefähr 50 shades of grey
Kennt Ihr diese winzigen Momente Alltagsmagie? Nein? Dann lest mal, was Gastautor Herbert Druschke auf seinem Weg vom Postamt nach Hause erlebt hat. 50 Shades of Grey, ohne zu saufen, ohne Auto. Nur balancierend. Und lest, was einen Müllmann von einem Rotkehlchen unterscheidet.
Einer dieser verpixelten, vernieselten, grauen Misttage, an denen ich unwirsch werde, und u.a. darüber fluche, dass ich kein Kfz mehr besitze. „Kannst du mir bitte ein Päckchen von der Post mitbringen? Das ist doch eh bei ‚DM’ um die Ecke“, bat mich meine Frau an so einem Morgen.
Kita, ‚DM’ und Postfiliale, die morgendlichen Stationen liegen zwar eng beieinander und in optimaler Mountainbike Distanz, aber der Niesel, der Wind und das ganze Grau nerven mich. Was soll’s. Meine wasserabweisende Bike-Couriertasche bietet Platz für Heu- und Reismilch, Penaten Kinderbad (ohne Tränen), diverse Haushaltsreiniger, sowie Apfelsaft aus heimischer Produktion, Katzenfutter und einen Deoroller mit oder ohne Aluminium, mir egal. Da wird auch noch Platz für ein Päckchen sein.
Ich: „Hallo,… ich wollte ein Päckchen abholen. Hier der Abholschein“.
Postbeamter: „Danke. Wie groß soll das Päckchen sein, dann muss ich nicht so lange herum suchen.“
Ich: „Hm,…ich würd sagen: soo!… ungefähr.“
Postbeamter: „Alles klar, ich hol`s eben.“
Schon huscht er um die Ecke. Nach einer Weile hör ich eine Stimme aus den Tiefen des Paketraums: “Wie war der nochmal der Vorname?“- „Roooomaaaana“ ruf ich viel zu laut. – “Vorname Romana und ein Päckchen, richtig??“ – „Äh, ja“. Raschel, polter,… raschel… Es werden 4 große Pakete auf den Tresen gewuchtet. Ich staune. „Ah!… und das hier noch.“ Zack, noch eins oben drauf.
War ich Opfer einer Verwechslung geworden?
„Tja, das sind dann wohl mehrere.“ Der Mann hatte definitiv Recht. Zwar keimte kurz meine Hoffnung auf Opfer einer Verwechslung geworden zu sein, aber das war schnell ausgeschlossen. Verdammt. Der erfahrene Beamte erfasst mein Dilemma und rät zu Entspannung: „Ach, wenn man die richtig stapelt, geht das schon. Die 2 Meter bis zum Parkplatz, das ist doch kein Weg.“
Der Satz war nicht ausgesprochen, da poltert der Stapel das erste Mal auf den Boden. Ein Kunde eilt zu Hilfe und mit dem beunruhigend skeptischen Blick eines erfahrenen Statikers hält er mir die Türe auf. „Ächz… danke.“
Die Pakete der Größe nach zu stapeln, bewährt sich nicht. Dieser Turm ist wackelig. Das leichteste Paket muss definitiv nach oben. Leider ist das leichteste auch das größte, und nun sehe ich gar nix mehr. Nach 2 Metern Blindflug ist wieder Schluss, der Wind fegt das Fliegengewicht runter.
Wieder absetzen. Noch nicht mal das Fahrrad erreicht und schon tausendmal mal die Ladung verloren. Es folgt eine optimistische Transportsimulation.
Der Plan: den Paketstapel schiebend auf dem Sattel meines MTB zu balancieren, gleichzeitig mit dem verbliebenem Arm und ordentlich Körperspannung zu versuchen die ganze Chose auf dem schmalen Bürgersteig zwischen parkenden Autos, Rollatoren und Kinderwagen hindurch zu bugsieren.
Irgendwie haut`s aber nicht hin. Immer wieder sammle ich die Pakete auf. Die Stimmung bewegt sich langsam in den kritischen Bereich.
Ohne Rad läuft’s eigentlich ganz gut
Diese MTB-Couriertaschen-und-1,2 m Paketstapelhöhe vs. Nieselregen-Transportvariante funktioniert nicht. Und mein ehemaliges KFZ, ein 80er Jahre Nissan Sunny Coupe, Silber aus 5. Hand mit grossem Kofferraum, erscheint mir wie die Fata Morgana dem Verdurstenden in der Wüste.
Entschluss: Die Pakete gehen mit, das Rad bleibt stehen. Nach 1,2 Kilometern Fußmarschund einem solide austarierten Stapel vor der Brust stelle ich fest: eigentlich läuft`s ganz gut.
Manchmal hilft es die Dinge sportlich zu sehen. Zwar wird der Rhythmus durch zyklisch runterfallende Pakete immer mal unterbrochen. Aber die Stimmung bleibt entspannt.
Dann, plötzlich. Motorenlärm und lautes Gebrüll.
Auftritt Müllabfuhr. Ein Müllwagen kriecht durch die bis dahin friedliche Seitenstraße. Die zwischen den Straßenseiten springenden Müllwerker haben Zeitdruck. Hektik. Stampfen und Zischen, gnadenlose Hydraulik, ächzende Scharniere. Dazwischen laute Kommandos. Ruppig wird gebrüllt, was das Zeug hält.
Wehrpflicht beim Bund: Da wurde auch ständig geschrien.
Spontane Zeitreise und Gedankenblase: Ich im Grünzeug, Wehrpflicht beim Bund. Stimmt, da wurde auch ständig geschrien.
„Mann, Mann. Gefreiter Druschke. Was ist das für ne Scheiße? Da ist meine Oma ja schneller. Halt, sind sie wahnsinnig? Was machen sie da mit dem G3? Erst der Lauf, daaaaaaaann der Verschluss. Mann, Druschke!! Haben sie gestern gesoffen, oder was??“
Zurück zu den Müllmännern. Brüll, brüll, brüll.“ Ey, Mann, Antonio. Was dauert das bei den ungeraden Hausnummern? Mach mal hinne. Hast du gestern gesoffen, oder was ??“
Freude und Dankbarkeit steigen auf. Aus dem Nichts!
Tschiiiiip. Wie aus dem Nichts holt mich urplötzlich wunderschönes Vogelgezwitscher ein.
Tschiip..tiriliiiii.—tschiiiiiip…tschiiip,……
Welch ein Break, was für ein Kontrast. Freude und Dankbarkeit steigen auf. Ich setze die Ladung ab, um nach dem Sänger Ausschau zu halten. Da ist er. Keine 2 Meter entfernt sitzt ein Rotkehlchen. Zwitschert und singt unverdrossen vor sich hin. Die Überzeugung und Entschlossenheit, mit der dieser kleine, kugelige Vogel mit den dünnen Beinchen gegen diese rüde scheppernde Kakophonie der Straße ansingt, rührt mich.
„Ey, Manni. Spinnst du? Anhalten, du Pfeife!“…
Zwitscher, Zwitscher …
„Hast du gestern gesoffen, oder was?“…
Tirili, Zwitscher, zwitscher.
Das Rotkehlchen ist ein sympathisches Tier. Ich bedaure, dass ausgerechnet Theropoden und Pyranhas die Lieblingstiere meines Sohns sind.
So wie man mit geschlossenen Augen sein Gesicht Richtung wärmender Strahlen dreht, wenn sich die Sonne nach 14 Tagen kühlem schmuddeligem Greyscale Regenwetter mal wieder zeigt, so stehe ich vor dem kleenen Singvogel und freu mich, dass es ihn hier mitten in der Stadt gibt.
Ein winziger Moment Alltagsmagie, den ich in meinem herbeiphantasiertem, beigen Nissan Micra womöglich verpasst hätte.
Ich nehme die Pakete auf. „Das größte ist das leichteste“. Weiter geht’s. Grau gemischt mit leichten orangefarbenen Sprengseln.
Wir finden: Ein ohfamooser Alltagsbericht. Zum Verlieben.
Herbert Druschke ist selbständiger Illustrator und lebt in Düsseldorf. Er ist sehr vielseitig und mag Biografien, in denen Dinge stehen wie: versuchte sich als Motorrad-Rennfahrer, legt als DJ auf und produziert elektronische Musik, entwirft Mode und schreibt Kurzgeschichten, lebte lange Zeit in Berlin, gab einen Malkurs im Himalaya, war dann bei der Fremdenlegion… halt, halt… das führt zu weit. Aber der Rest trifft es ganz gut.
Fotos: privat
Ein wunderbarer Gastbeitrag. Bringt mich zum Schmunzeln und bringt ein bisschen Farbe in das Nieseln, das wir gerade vor unseren Fenstern in Wien verzeichnen können. Danke!
Mehr davon!
Zeigt einem wieder: die Perspektive macht die Musik.
Mein Favorit, nach wie vor: „Transportsimulation“:)
Mensch Drüschel ,was’n das für’n Dries, ham dir die Jahre in Mitte die Birne verbogen?!
Gruß Rölle
Den letzten Kommentar verstehe ich nicht. Was willst Du, Rolf Seiger, bitte damit sagen???