Wer repariert unsere Welt? Du? Wir?!
„Wieder so eine Nacht…“ Als ich Sonjas Satz auf Facebook lese, bin ich endgültig in der Gegenwart angekommen. Und die ist so beklemmend. Umso mehr, weil ich an einem so friedlichen Ort war und bin. Ich hatte mein Handy aus – und nun stürmen die Weltgeschehnisse mit voller Macht in mein Bewusstsein.
Eben noch diese harmlose Kuh fotografiert, die da fast in sich gekehrt auf der bayrischen Weide liegt. Und jetzt die Nachrichten über diesen elenden Anschlag in Nizza. Als Sohnemann im Bett liegt, traue ich mich immer noch nicht den Fernseher anzuschalten. Will ich meine Idylle wirklich schon verlassen? Mein Kind schläft, während anderswo Kinder in Kliniken um ihr Leben kämpfen, es ist so unfassbar.
Und während ich alles langsam verarbeite, leuchtet schon wieder eine WhatsApp neben mir auf:
„So und jetzt Putschversuch in der Türkei und ich muss um 23 Uhr Telefonschalte machen!!!“
Meine Freundin Nadja, die bei ntv den Auslandsreport leitet, macht sich auf den Weg ins Berliner Studio. Ich fühle mich wie in den Bergen bei den sieben Zwergen – so merkwürdig abgekoppelt vom Rest der Welt. Draußen rauscht nur idyllisch die Weissach an der Ferienwohnung vorbei. So irreal friedlich, wenn man daneben die Bilder sieht, wo Journalistinnen mittlerweile per iphone die vermeintlich Mächtigen dieser Welt via Interview ins Fernsehstudio holen.
Nizza – Orientierung im Netz?
Wie oft, wenn ich Orientierung suche, gehe ich ins Netz. Parallel laufen die news im TV. Irgendwann sehe ich Nadja auch, die Lage in der Türkei einschätzend. Mein Gott, morgen schon werde ich wieder – ganz die Mama – das Kinderprogramm haben: Der See lädt zum Outdoor-Stabhochsprung mit Waffeln und Siegerehrungen und allem, was zur heilen Welt eben dazu gehört. Im Netz aber rumort es derweil kräftig. Und in meiner Mailbox sehe ich eine Nachricht meiner Kollegin Cornelia:
„Meine Güte, unser aller Leben scheint so in Watte gepackt. Und gleichzeitig so voll gepackt mit Belanglosigkeiten manchmal. Wie schrieb eine meiner Freundinnen gerade: Die Welt wird so roh, die Reaktionen so gleichförmig, die Rhetorik inflationär.“
Der Tag nach dem Putschversuch
Auch der nächste Tag nach dem Putschversuch ist merkwürdig. Er beginnt mit einer Nachricht meiner Schwester, die ich nachts noch versucht hatte zu erreichen. Sie ist Sprecherin der GIZ und schreibt mir u.a.: „Unsere Leute sind in Sicherheit…“ Ich frage mich, wie oft sie schon für ihre Kollegen im Ausland gezittert hat. Und lese danach wie jeden Morgen meine Mails. Auch Melanie, die ebenfalls mit mir bloggt und gerade in Thailand war, hat sich gemeldet:
„Lese mich gerade durch die Nachrichten und brenne innerlich. Das gibt’s doch nicht! So ein tolles Land und so liebe Menschen! Traurig, Melanie“
Auf Facebook finde ich einen Post einer guten Bekannten aus Düsseldorf. Sie teilt das Bild JE SUIS SICK OF THIS SHIT. Nicht neu, aber es trifft meine Stimmung einigermaßen.
Wer repariert unsere Welt? Du? Wir?
Ich teile JE SUIS für ohfamoos im sozialen Netz. Eine Antwort lässt bei Facebook nicht lange auf sich warten; Tanja Nolte, eine unserer Gastautorinnen, kommentiert als Erste:
„Die Welt ist kaputt.“
Kaputt. Ein selten benutztes Wort. Passt es jetzt? Trotz aller Schreckensnachrichten bin ich mir da nicht sicher. Ereignisse wie eben jetzt wieder in Frankreich und der Türkei werfen ‚nur’ einmal wieder das Schlaglicht darauf, wie krass die Welt aus den Angeln gehoben ist. Wie bedroht ist unsere Welt? Wirklich schon kaputt? Und wenn nicht, was wir wohl alle hoffen: Wer tut wann was, um sie wieder zu reparieren? Wollen wir wirklich auf ‚die Politiker’ warten? Und wie fasst man diese Realitäten auch nur ansatzweise in Worte?
Wenn Worte zu Waffen werden
Auch Worte können ja Waffen sein. Das denke ich, als ich später diese Sätze im Online-Kiosk Blendle lese:
„Ich sah Körper wie Bowling-Kegel umfliegen“: Das ist die eindringlichste Rekonstruktion des Anschlags, die wir heute gefunden haben.
Zitiert aus der Süddeutschen Zeitung, da ringe ich wieder um Fassung. Man stelle sich nur vor, was Angehörige denken mögen, sollten sie so etwas lesen. Ich mag ja die Seite Drei der SZ sehr – wird sie aber so angepriesen, wird mir total anders. Diese Sensationsgier, die sich immer weiter über so viele Medien(dienste) in die Herzen der Menschen frisst – ich glaube das ist etwas, was mich heute vor allem so mitnimmt. Ich nenne es mal Kaltblütigkeit. Die sich im Kleinen zeigt, wenn man Artikel formuliert und im großen Stil, wenn Menschen wie in Nizza zu Attentätern degenerieren.
Ein ohfamooser Schluss mag mir heute nicht einfallen. Nur noch einmal der Hinweis, dass wir selbst so viel in der Hand haben, trotz aller Trauer. Bei der Erziehung unserer Kinder, bei der Auswahl unserer Medien. Kein Anschlag darf uns mutlos machen, auch wenn ich sehr wohl weiß, wie leicht sich etwas Positives aus sicherer Perspektive sagen lässt…
Und bald gibt es wieder nettere, Mut machende Geschichten bei uns zu lesen.
Fotos: via Facebook; Antonia Lütge, Elke Tonscheidt