Vom Kinderbett zur familiären Hängematte
Ist es normal, wenn die Kinder im hohen Alter, also jenseits der 20, noch im Elternhaus wohnen? Fragt sich unser Gastautor Thomas Rietig, bei dem dies der Fall ist. Er findet es angesichts der individuell herrschenden Umstände in Ordnung, kommt aber bei deren Schilderung leicht vom Thema ab. Die Familie ist eben die Keimzelle unserer Gesellschaft.
Während ich über das „Hotel Mama“ schreibe, räumt mein jüngerer Sohn sein Zimmer auf. Unsere Jungs (21, 25) wohnen noch zuhause. Es stört mich nicht, meine Frau schon gar nicht – meistens jedenfalls nicht. Wir machen uns auch keine Gedanken, ob wir vielleicht bei der Erziehung etwas falsch gemacht hätten. Wäre jetzt eh zu spät… Und ich selbst bin mit etwa 23 von zuhause ausgezogen, obwohl es dafür keine wohnungstechnische und auch keine beziehungstechnische Notwendigkeit gab. Mir ging nur die spießige Welt meiner Eltern auf den Wecker.
Die offenbar statistisch untermauerte Erkenntnis einer Psychologin, dass viele ältere Kinder „sowohl emotional als auch finanziell noch stark von den Eltern abhängig“ seien, trifft in unserem Fall eher nicht zu. Wobei das Wort „Abhängigkeit“ irgendwie nicht passt, schon gar nicht zum Emotionalen. Wer ist hier von wem abhängig? Ist Liebe Abhängigkeit? Anderes Thema.
„Solange du noch die Füße unter meinen Tisch stellst …“
Finanziell passt es schon eher, und sie leiden ein wenig darunter. Das war bei mir anders, da mein Vater Anfang der 70er Jahre den Spruch wagte: „Solange du noch die Füße unter meinen Tisch stellst …“ Kaum hatte er ihn beendet, bereute er es auch schon. Denn er bekam die Antwort: „Wenn das so ist, ziehe ich sie so schnell wie möglich unter dem Tisch weg.“ Kurz darauf zog ich auf eigene Kosten in ein Appartement. Es war extrem billig, aber komfortabel. Ja, so etwas gab es damals noch, selbst in Frankfurt am Main. Und dass so etwas heute dem Fund einer Stecknadel im Heuhaufen gleichkäme, ist auch einer der Gründe für das Daheimbleiben meiner Söhne. Wir Eltern würden diesen Satz übrigens niemals aussprechen, weil wir ihn noch nicht einmal denken. Wir müssen ihn uns auch nicht verkneifen – das Familienklima gibt eine solche Generationskluft schlicht nicht her.
Es sind vor allem praktische Erwägungen, die meine Jungs in unserem Haus halten. Man könnte von familiärer Hängematte sprechen – kurz mit dem Klischee „Hotel Mama“ umschrieben.
Der Umstand, dass haushaltsmäßige Sternstunden wie Staubsaugen über das eigene Zimmer hinaus oder unaufgefordertes Müllwegbringen wenn überhaupt, dann nur an höchsten Feiertagen schlagen, sorgt für Grummeln in der Hoteldirektion. Aber wenn einer der Nachfahren mal laut übers Wegziehen nachdenkt, sprudeln die Bedenken. Das Nachdenken fand bisher stets seine Grenzen an den finanziellen Möglichkeiten beziehungsweise an der mit dem Umzug verbundenen Notwendigkeit, Geld für die Miete – anstatt für andere Dinge wie etwa Auslandsurlaub – ausgeben zu sollen.
Mietfreiheit im Hotel Mama
Noch ein Indiz dafür, dass Abhängigkeit eher eine sekundäre Motivation ist: Beide haben bereits mehrmonatige Auslandsaufenthalte zu Studien- oder Arbeitszwecken und Urlaube hinter sich. Ihr Hierbleiben ergibt sich vorwiegend aus pragmatischen Erwägungen. Neben der kostenfreien Vollverpflegung spielt natürlich auch die Mietfreiheit eine Rolle, während die relative Ferne (15 bis 25 km) zum Studienplatz als nervig empfunden wird. Die Beantwortung der bereits am frühen Morgen gestellten Frage: „Bist du heute Abend zum Essen da?“, gilt ebenso als Zumutung wie auf der anderen Seite das Im-Ungewissen-Lassen hinsichtlich der abendlichen Präsenz. Beides ist inzwischen zum Ritual gereift – und geht allen Beteiligten auf den Wecker.
Dagegen stört es weniger, wenn die Herren Damenbesuch empfangen, der über Nacht bleibt; oder wenn sie selbst nachts nicht nach Hause kommen. Ihre Zimmer liegen im ersten Stock, unsere im Parterre. Jede Etage hat eine voll ausgestattete Nasszelle, so gibt es keinerlei Probleme mit spärlich bis gar nicht bekleideten Personen. Wir versuchen gerade, sie dazu zu erziehen, wenigstens einen kleinen Zettel auf dem Küchentisch zu hinterlassen. Tun wir im umgekehrten Fall ja auch.
Das Spiel ist das Ziel
Auch für die Eltern gibt es praktische Gesichtspunkte, die ein Verbleiben der Jungs im Haus angenehm erscheinen lassen. Zwar haben wir das heraufdämmernde Computer- und Internet-Zeitalter in den meisten Stufen aktiv und verstehend miterlebt. Aber wir profitieren von den Programmier- und Software-Kenntnissen des angehenden Wirtschaftsinformatikers und dem Netflix-Abo. Andererseits spielen wir alle vier manchmal mit einem 50 Jahre alten Monopoly-Spiel, das eben zu zweit wenig Spaß macht. Ich verliere meistens; das liegt wahrscheinlich daran, dass ich nach dem Motto „Das Spiel ist das Ziel“ an die Sache herangehe.
Ich unterschreibe die These nicht, dass die Jungs emotional noch stark von den Eltern abhängig sind. Es ist eher umgekehrt. Jeder Tag, an dem ich das Vergnügen haben darf, meine Familie um mich zu haben, ist kein verschwendeter Tag in meinem Leben.
Und noch eins: Als meine Altersgenoss*innen und ich uns vor Jahrzehnten die Frage gestellt haben, ob wir Kinder haben wollten, gab es viele in der damaligen vollsaturierten Bundesrepublik, die sagten: In diese Welt kann man doch keine Kinder setzen! Dabei lag vor uns eine Welt voller Freiheit in jeder Hinsicht und für alle Sinne. Man musste sie nur mit allen Sinnen nutzen. Bedrohungen zeichneten sich, wenn überhaupt, höchstens abstrakt ab – man denke an das atomare Gleichgewicht im Kalten Krieg; und stellten sich dann nicht ein. Im Gegenteil. Zehn Monate bevor unser Ältester geboren wurde, unterzeichneten Staats- und Regierungschefs Europas, der USA und Kanadas 1990 die Charta von Paris. Die KSZE-Konferenz war einer jener Momente, an denen ich hautnah verfolgen konnte, wie Geschichte gemacht wurde, positive Geschichte. Die in dem Dokument beschworene Freiheit ist zurzeit in großer Gefahr.
Wir brauchen junge Leute, die sie mit uns bewahren und vorwärtsgewandt verteidigen, und zwar nicht mit Waffen. Deshalb sollten wir, gerade wir, auch heute wieder Kinder in die Welt setzen – und sei es nur, um den liberalen Rechtsstaat der nächsten Generation zu vererben.
Jetzt bin ich ein bisschen von Thema abgekommen, aber das, wohin ich gekommen bin, ist eigentlich noch wichtiger als die Frage, ob wir es gut finden sollten, dass unsere Kinder noch bei uns leben.
Gastautor Thomas Rietig, Jahrgang 1952, ist Journalist in Berlin. Zunächst arbeitete er als Lokalredakteur in Frankfurt am Main, dann in Bonn und Berlin fast 30 Jahre als Korrespondent, Reporter, Hauptstadtbüroleiter und stellvertretender Chefredakteur für den Deutschen Dienst der Nachrichtenagenturen Associated Press und der dapd. Seit die 2012 pleite ging, ist er freier Journalist und Autor. Eines seiner Spezialgebiete ist Verkehrspolitik.
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