„Wir erleiden Schiffbruch, wenn wir nichts tun“
Ist er ein Held? Gilles Duhem kann in jedem Fall eins: Reden. Auf den Punkt bringen, was in seinem, dem Neuköllner Rollbergviertel mitten in Berlin, passiert. Zuspitzen, was Menschen umtreibt. Oder wie die Berliner Zeitung schreibt: Er hat sie „von Anfang an nicht als hilflose Objekte staatlicher Betreuung behandelt, sondern als zu aktivierende Bürger.“ Das hat auch Europas größten Schuheinzelhändler, das Unternehmen DEICHMANN, überzeugt: Gilles Duhem konnte 15.000 Euro Preisgeld mit in die Bundeshauptstadt nehmen.
Wer sich MORUS14e.V. anschaut, merkt schnell: In diesem Berliner Projekt geht es um Herzblut, um soziale Integration, Gewaltprävention, Bürgergeist und Respekt. Und vor allem darum, Würde zurückzugeben. An Menschen, die mangels Bildung klein wurden – die aber durch Beschäftigung mit ihnen, auch wenn ihr Selbstvertrauen verschrumpelt ist, wieder wachsen. Erwachen zu neuem Leben.
Deichmann fördert Integration
Seit 2005 zeichnet der DEICHMANN-Förderpreis Projekte aus, die sich bei der Integration benachteiligter Jugendlicher besonders engagieren. 100.000 Euro gibt der Essener Unternehmer Heinrich Deichmann, dessen Vater soziale Projekte schon bemerkenswert förderte, dafür aus. Elke hat die Preisverleihung für ohfamoos besucht und sich anschließend Gilles Duhem rausgepickt. Alle Projekte waren sensationell im Sinne von berührend, weil so mitmenschlich. Aber das Vorleben bürgerschaftlichen Engagements zur Förderung von Bildung, das der in Paris aufgewachsene Gilles verkörpert, hat Elke besonders begeistert.
Gilles, Sie arbeiten im Neuköllner Rollbergviertel, einer Welt mit vielen Großfamilien und 70 Prozent Migrationshintergrund; wie kommt man an die rund 140 Kinder ran, die Sie mit über 120 Ehrenamtlichen betreuen?
Gilles Duhem: Relativ einfach. Wir verkaufen das Produkt Bildung und Schulunterstützung. Und viele, viele Eltern sind mit dem Arbeitspaket Schule ziemlich überfordert. Sie freuen sich, jemanden zu finden der ihnen dabei hilft.
Ihr Motto ist Schülerhilfe.
Ja, wobei viel, viel mehr passiert als Hausaufgaben-Unterstützung, womit es manchmal verwechselt wird.
Was passiert genau?
Dadurch, dass Kinder mit einem Erwachsenen allein arbeiten können, ergeben sich ganz andere Beziehungen als solche, die in der Familie möglich sind. Man entdeckt die Welt gemeinsam, indem man ein Museum besucht, zusammen Fahrrad fährt oder schwimmen geht. Die Kinder erleben, dass Erwachsene viel Zeit investieren. In sie, in die Kinder!
Weil es meist Familien mit vielen Kindern sind?
Ja, Kinder kennen das gar nicht, dass sie ganz allein im Fokus stehen. Und so entsteht plötzlich Bindung. Die Kinder erleben uns als Problemlösungsmaschine. Das macht uns attraktiv.
Erwachsene helfen bei der Bewältigung von Kinderproblemen; klingt nach einem einfachen Konzept.
Genau. Wir haben das Problem Schule – und es ist wie in einer Marktwirtschaft: Wir sind das richtige Produkt im Regal. Deswegen kommen die Kinder.
Können Sie zaubern?
Nein, aber wir haben z.B. im Büro ein Zaubergerät. Raten Sie was das sein könnte?
Oh je, hat es vielleicht mit Musik zu tun?
Falsch, es ist viel einfacher, es ist ein Drucker. Der schlicht und einfach etwas druckt. Kinder kommen, weil sie für die Schule Bilder ausdrucken müssen, eine Internetrecherche gemacht haben oder was auch immer. Aber wo gibt es Drucker? In den Familien sind sie kaputt oder einfach zu teuer. Und in den Jugendeinrichtungen kann man auch nur selten ausdrucken.
Sie haben keine Probleme Jugendliche zu „rekrutieren“?
Null, und da sind wir eine totale Ausnahme. Vielleicht haben wir auch deshalb diesen schönen Preis gewonnen…
Was bedeutet der Deichmann Förderpreis für Sie ganz speziell?
Als Erstes bedeutet dieser Preis für uns 5 Prozent meines Jahresbudgets 2017, also sehr viel Geld. Zweitens ist dieses Geld nicht zweckgebunden, d.h. wir dürfen dieses Geld nutzen wie wir es brauchen. Das ist super. Das ist in Förderprogrammen nie der Fall, denn dort wird man häufig extrem „gegängelt“.
Heißt das, Geld aus Förderprogrammen ist weniger gut?
Manchmal ist es in kleinen Strukturen fast besser, kein Geld aus Förderprogrammen zu bekommen, ja. Denn da wird Geld für das Personal immer äußerst knapp kalkuliert oder es ist gar keins dafür vorgesehen; die Projektumsetzung und –verwaltung geschieht aber mit oft im Hintergrund und mit sehr großem Aufwand. Deshalb kritisiere ich die Logik des Prozentsatzes, die hinter der Logik der sog. Regiemittel steht, als grundfalsch und oft lähmend.
Jetzt haben Sie aber eine gewisse Freiheit gewonnen?
Diese Freiheit ist das Öl im Getriebe jedes Vereins – genau das zu machen, was man braucht. Und deshalb bedeutet der Deichmann Preis auch ein großes Echo, man lernt neue Leute kennen, das ist gut fürs Renommee. Wir erleben dadurch Vernetzung; von einer solchen Öffentlichkeitsarbeit erhoffen wir uns, dass es Nachahmer gibt. Also, dass Privatpersonen oder Institutionen auf uns aufmerksam werden und sagen: Das ist aber eine wirklich tolle Initiative. Dafür spenden wir z.B. jedes Jahr 5.000 Euro oder so.
Ich lese, dass kürzlich so prominente Frauen wie Susanne Klatten viel Geld gespendet haben…
Frau Klatten hat uns ermöglicht, mit einer Förderung, die wir durch ihre Initiative SKala seit letztem Jahr erhalten, ein tolles Experiment zu starten: das Projekt „Fit und schlau-von Anfang an“. Ehrenamtliche Helfer begleiten fast alle Kinder einer ganzen Grundschulklasse ab der 1. Klasse bis zum Ende der Grundschulzeit (in Berlin am Ende der sechsten Klasse). Jede Woche, ganz regelmäßig mindestens 90 Minuten pro Woche. Mittlerweile sind die Kinder in der 2. Klasse. Das große Thema ist gerade, die Uhr lesen und verstehen zu lernen. Wir sind Frau Klatten sehr dankbar, dass dadurch die Kinder dieser Klasse einen „privaten Coach“ erhalten. Gespannt sind wir ebenso auf die Projektevaluation.
Warum ist weitere Unterstützung nötig?
Wir haben momentan etwa 25.000 Euro an Dauerspenden, wir müssten jedoch die magische Marke von 100.000 Euro erreichen, damit unsere Struktur endlich mal ein bisschen aufatmen kann. Sonst ist das wie Seilspringen – jedes Jahr aufs Neue. Man schnappt immer wieder nach der Wurst. Das ist nicht stabil. Alles ist stabil und wächst bei MORUS 14, nur eben die Finanzierung nicht.
Sie haben auch viele, viele Kleinspender – wer steckt dahinter?
Viele ältere Menschen, die bei uns im Kiez mit ganz wenig Geld leben. Sie überweisen 2 oder 3 Euro von einer kleinen, schmalen Rente oder sie gönnen sich, das kann man wirklich so sagen, die jährliche Vereinsmitgliedschaft von 24 Euro im Jahr. Und das ist VIEL Geld, weshalb wir diese Spender genauso würdigen wie die größeren.
Tun diese Rentner das, um Anschluss zu bekommen?
Ja. Beliebt ist z.B. jeden Mittwoch das gemeinsame Essen, die sogenannte Rollberg-Tafel. Das ist so was wie ein Dorfrestaurant geworden, wo unterschiedliche Ehrenamtler kochen. Also von der Polizei, über die Schulen oder auch Unternehmer und natürlich Vereinsmitglieder. Querbeet durch den Gemüsegarten. Das sind die ganzen Küchen dieser Welt schon zu Besuch gewesen…
Entwickelt sich da nicht eine Menge Stolz?
Und wie. Wir haben dem Viertel, wir alle zusammen, ein Gesicht gegeben.
Sie sagten bei der Preisverleihung, das Problem sei nicht die finanzielle Armut, sondern die Bildungsarmut.
Das Problem ist: Wie wollen Sie es schaffen, dass Kinder ab der 1. Klasse Fuß fassen, wenn die Eltern nie lesen, nie schreiben und nie ein Buch von innen gesehen haben? Viele Eltern verstehen nicht, wie Schule funktioniert, sie können es ihren Kindern damit auch nicht vermitteln. Wir hatten kürzlich ein Mädchen, das ein Schulbuch besorgen musste. Wir haben erst nicht verstanden, wo ihr Problem war. Sie hatte die Bestellnummer, den Titel, alles was man für eine Bestellung braucht. Aber sie kannte schlicht keine Buchhandlung!
Verschärft die Migration solche Tendenzen?
Natürlich. Das, was jetzt passiert, ist ja nur die Spitze des Eisbergs. Die beschriebenen Probleme werden sich noch sehr viel akuter stellen. Deshalb appelliere ich, wo ich kann: Wenn das System das nicht verstehen will, werden wir Schiffbruch erleiden. Viele Familien sind komplett überfordert, sie können es schlicht nicht. Ich bin ja schon froh, wenn ich Familien habe…
… die nicht dagegen sind?
Auch, aber die zunächst mal in der Lage sind einen Termin überhaupt einzuhalten! In unserem System findet nun aber eine kleine kulturelle Revolution in den Familien statt!
Eine Kultur-Revolution?
Ja, plötzlich wird ein Termin von einem Kind wichtig! Man kann nicht umdisponieren. Der Vater kann nicht sagen: und jetzt gehen wir alle zum Friseur. Vielleicht sind Sie überrascht, aber das ist wirklich ausschlaggebend. Das gibt dem Kind erstmals einen ganz anderen Stellenwert.
Machen Sie deshalb die Schülerhilfe nie zuhause bei den Familien?
Richtig, das ginge nicht. Wir zwingen alle Leute zu uns zu kommen. Das ist kostenlos, aber durch dieses Ritual lernt man Termine einzuhalten. Und sich zu strukturieren.
Was wäre das größte Glück für Sie, was Ihrer Arbeit widerfahren könnte?
Wir haben viel gearbeitet, wirklich viel, Ehrenamtliche wie Hauptamtliche. Aber wir hatten auch immer ein bisschen Glück. Was uns extrem helfen würde, wäre 10, 15 oder vielleicht sogar 20 Freunde, die sich überlegen: Mensch, dieses Morus 14 ist so toll, wir spenden jedes Jahr pro Nase 5.000-10.000 Euro. Also ich meine jetzt Leute, die das auch mit dem Finanzamt verrechnen können. Wir geben ja Spendenquittungen.
Ein solcher Freundeskreis würde sie retten?
Ja. Das restliche Geld kriegt man immer, mit kleinen Förderprogrammen, mit Stiftungen, mit Preisen, was auch immer. Aber man braucht einen Sockel, auf den ich mich verlassen kann. 150-200.000 Euro im Jahr, das ist der Sockel für ein Projektprogramm dieses Ausmaßes. Denn wir konkurrieren in Berlin mit so vielen anderen Projekten. Es gibt wenige Unternehmen, die wir als Partner vor Ort gewinnen könnten…
Ich werde Ihre Bitte auf ohfamoos ausdrücklich bringen!
Danke, denn Berlin ist nicht Wolfsburg, da wäre es wirklich einfacher.
MORUS 14 bezeichnet sich als Plattform bürgerschaftlichen Engagements zur Förderung der Bildung und Integration von Kindern und Jugendlichen aus dem Rollbergviertel in Berlin-Neukölln. Ein bekannter sozialer Brennpunkt, wo viele Bewohner bereits in der 3. Generation arbeitslos sind.
Alles über den DEICHMANN Förderpreis für Integration.
Fotos via P.U.N.K.T PR Hamburg und Morus14