Eltern und ihre Nesthocker

Wenn Eltern nicht älter werden mögen. Und Kinder nicht erwachsen. Dann ist das für beide Seiten ungesund. Jugendlichkeit als Lifestyle-Prinzip und die Folgen sind Eltern und ihre Nesthocker. Damit befasst sich eine höchst aufschlussreiche Analyse einer politischen Stiftung: ‚Die neue Nähe zwischen Eltern und ihren erwachsenen Kindern in der Mittelschicht’ bringt es so auf den Punkt: „Der Entschluss, für sich selbst Verantwortung zu übernehmen, wird (…) über Jahre hinausgeschoben – oft unter tätiger Mithilfe der Eltern selbst, die davor zurückscheuen, allein zurückzubleiben und deshalb mit aller Kraft am hergebrachten Eltern-Kind-Verhältnis festhalten.“

Oft hören wir, es sei wegen finanzieller Erwägungen, dass junge Erwachsene ihr Elternhaus erst Ende 20 mit Sack und Pack verlassen.

Tatsächlich existiert ein extrem enges Eltern-Kind-Verhältnis in der Mittelschicht!

Die freie Journalistin Gerlinde Unverzagt, Autorin zahlreicher Bücher über Erziehung, Familie und Partnerschaft, führt für die These der neuen Nähe diverse, hochinteressante Fakten ins Feld. Ja, sagt die Mutter von vier Kindern, die neue Nähe sei auch „Ausdruck eines neuen Wir-Gefühls, das mit dem 9/11-Attentat eine Zeitenwende von der Spaßgesellschaft zum neuen Bedrohungsgefühl eingeläutet hat“. Es gäbe seit dem eine ungewöhnlich große Sehnsucht nach Geborgenheit und Zusammenhalt.

Kinder werden als Jungbrunnen genutzt

Und dann kommt das ABER: „Die infantile Gesellschaft unserer Tage“, schreibt Unverzagt, „erhebt die Symbiose zu etwas Erstrebenswertem“, webe gar am „Leitbild der Ähnlichkeit“. Nicht anders zu sein stehe im Fokus sondern die Verbindung mit Jugendlichkeit lasse den eigenen Alterungsprozess gefühlt hinauszögern. Zudem führe das stetige Pulsieren über die digitale Nabelschnur (WhatsApp etc.) zu einer Verschmelzung im Alltag, die das aneinander Festhalten noch begünstige.

Wie also steht es um die Chancen von Kindern auf Selbstverantwortung? Warum schieben sie die Trennung aus dem elterlichen Nest immer mehr auf? Die Autorin ist da eindeutig: Oft können und wollen Eltern nicht loslassen!

„Das Verschwinden der Generationenkluft, das den Eltern die Illusion ewiger Jugend vermittelt, hat Risiken und Nebenwirkungen“, so Unverzagt wörtlich!

Der Trend, nicht mehr ‚Bestimmerfamilie’ sondern ‚Verhandlerfamilie’ zu sein, hinterlässt mittlerweile starke Spuren. Gepaart mit der Jugendbesessenheit unserer Gesellschaft spricht Unverzagt von der großen Verlockung, „erwachsenen Kindern alle Annehmlichkeiten zu bieten und im Gegenzug daraus die trügerische Vergewisserung zu ziehen, genauso jung zu sein, wie man sich mit ihnen fühlt.“

Der Auszug aus dem Hotel Mama – ein emotionaler Verrat

Und es kommt noch dicker. Es sei „nicht immer nur die pure Selbstlosigkeit, wenn Eltern ihren Kindern aus lauter Liebe alles geben und immer für die Kinder da sind. Wenn man sich heute darauf einlässt, rund 250.000 Euro zu investieren, will man Rendite – und die Bringschuld dieses Geld-Gefühl-Transfers lastet auf den Schultern der Kinder.“ Mit Recht fragt da die Autorin, ob es noch länger verantwortbar sei, Kinder – oft beinahe an die 30 Jahre alt – derart eng zu binden. Denn es könnte gut sein, fährt Unverzagt fort, dass die Bindung zwischen Kindern und einem alleinerziehenden Elternteil so eng gehalten werde, „dass ein Auszug aus dem Hotel Mama, seltener Pension Papa, einem emotionalen Verrat gleich käme.“

Starker Tobak, oder? Und was passiert mit jungen Erwachsenen, die sich von den Annehmlichkeiten ihrer Kindheit nicht verabschieden können? Die die emotionale Abnabelung von ihren Eltern in ein eigenständiges Erwachsenenleben nicht oder sehr spät erst vollziehen?

Über Jahre hinweg fehlt ihnen klare Orientierung, sind sie nicht Fisch, nicht Fleisch.

Eine große Herausforderung, meint die Autorin und zitiert diverse Soziologen, die sich mit diesem „Niemandsland zwischen Kindheit, Jugend und Erwachsensein“ auseinandersetzen. In diesem Lebensabschnitt werden viele Unsicherheiten und Sprünge provoziert, die nicht selten in einer Zufluchtssuche zurück ins Elternhaus münden. Wenn die Ausbildung nicht klappt, der Job verloren geht oder Beziehungen scheitern… und Eltern ihre großen Kinder seufzend wieder in ihre geöffneten Arme schließen.

Eure Sicht der Dinge, eure Erfahrungen interessieren uns!

Quelle der Thesen: Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS), „Essayistische Betrachtung über das Hinausschieben des Erwachsenwerdens

 

Gerlinde Unverzagt, Autorin aus Berlin

Gerlinde Unverzagt ist freie Journalistin und hat zahlreiche Bücher zu den Themen Erziehung, Familie und Partnerschaft geschrieben. Sie hat vier Kinder und lebt mit ihrer Familie in Berlin. In ihrem 2017 veröffentlichten Buch ‚Generation Ziemlich Beste Freunde’ beschreibt sie, warum der Auszug erwachsener Kinder heute für viele Mütter und Väter in erster Linie mit Schmerz verbunden ist und fragt: Was ist da los in der Generation 45plus und ihren Kindern?

 

Fotos: Unsplash/Til Jentzsch; Autorenfoto: Olivier Favre

Elke Tonscheidt
Elke Tonscheidt, die selbsternannte Energiebündlerin, liebt und lebt in Köln. Neben ihrer Arbeit bei ohfamoos schreibt sie auch für andere Medien, besonders gern Porträts und Reportagen. Sie vernetzt sich gern, hat ein Start-Up mit gegründet und war einige Jahre in der politischen Kommunikation tätig.
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Dieser Beitrag wurde erstmals am 15. März 2018 veröffentlicht
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Die Kommentare zu “Eltern und ihre Nesthocker”
  • Heike Lachnit

    Ich weiß nicht, was dahinter steht und wie dies gedeutet werden kann, sehe es auch etwas weit hergeholt, einen eigenen Jungbrunnen darin zu sehen und möchte auch die Motivationen hinter den Taten nicht bewerten. Aber eines ist doch klar – das beginnt nicht erst damit, wenn die Kinder mit Ende 20 noch nicht ausziehen. Das beginnt doch schon viel früher. Ich sehe es jetzt bei meiner Kleinen und den ganzen Vorschulkindern – 2/3 der Eltern sind der Meinung, dass ihre Kinder den Weg zur Schule nicht laufen können und fahren sie mit dem Auto. Nachmittags geht es weiter mit den Fahrten zu den Vereinen & Co. Kommen die Kinder in die Schule, werden die Hausaufgaben mit gemacht und jegliche Hürde abgenommen. In der achten Klasse kümmern sich die Eltern um den Praktikumsplatz und die Termine für den Führerschein machen auch die Eltern.
    Sind die Kinder dann erwachsen, steht uns eine Armee unselbständiger, auf sich bezogener Egoisten gegenüber, die nicht in der Lage sind eigene Entscheidungen zu treffen.
    Ich kann mir nicht vorstellen, dass dies etwas damit zu tun hat, mich selbst jünger zu fühlen oder mein „Investment“ in greifbarer Nähe zu haben. Ich weiß es nicht.

  • Ilona Asholt

    Meine Tochter ist gerade 20 geworden und wohnt noch zu Hause, in erster Linie aus finanziellen Gründen. Wobei ich mir jetzt schon nicht mehr so sicher bin… tatsächlich verstehen wir uns prima und genießen das beide sehr. Trotzdem ist klar das sie bald ihre ganz eigenen Wege gehen möchte und auch muss.

    Ich bin damals mit 18 ausgezogen und hatte ständig Streit und Stress mit meinen Eltern. Das war keine schöne Zeit.

  • Elke

    Es ist sicher ein ganz schwieriges Thema, ist es ja immer wenn viele Emotionen im Spiel sind. Ich freue mich sehr, wenn ich viele meiner Freundinnen mit erwachsenen Kindern sehe und die sich super verstehen. Ich glaube darum geht es der Autorin auch nicht, die 20-jährige Tochter (eins von 4 Kindern) schreibt selbst in einem der Bücher von Gerlinde Unverzagt mit. Aber neben dieser schönen Nähe gibt es eben auch Schattenseiten, die die Autorin versucht zu beleuchten. Keiner will es gern zugeben, aber ist es nicht ein Fakt, dass es eine Angst vor dem Älterwerden gibt? Und wie viele Ehen kennt Ihr, die sich „plötzlich“ wandeln, wenn die Kinder aus dem Haus raus wollen? Und dann die oft gehörten Kommentare wie „Meine Kinder halten mich jung. Dagegen ist ja auch per se nichts einzuwenden, aber wenn sich Abhängigkeiten in diese Beziehungen einschleichen, dann lohnt es sich meines Erachtens näher hinzusehen. Ich finde die Analyse deshalb sehr diskussionswürdig und freue mich über weitere Kommentare!

    • Sonja Ohly

      Liebe Elke,

      Danke für deinen Kommentar. Aus Erfahrung weiss ich, dass es nicht die Kinder sind, die mich ‚jung‘ halten. Man muss schon selbst etwas dafür tun 🙂


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