Kinder sind keine Curlingsteine
Manche Eltern verwechseln ihre Kinder mit Curlingsteinen, indem sie jedes Steinchen aus dem Weg räumen. Meint ohfamoos-Gastautorin Sylvia Hubele. Sie appelliert Kinder auch in Turbulenzen selbst machen zu lassen, weil diese zum menschlichen Leben dazu gehören. Ob kleinere Wirbel oder auch echte Krisen – behindert kleine Menschen nicht in ihrem Wachstum, warnt Sylvia und empfiehlt zum Schluss ein Buch von Pater Anselm Grün.
Hast du schon einmal beim Curling zugesehen? Zwei Mannschaften schicken zwanzig Kilo schwere Curlingsteine aus poliertem Granit über eine Eisfläche, um eine möglichst hohe Punktzahl zu erzielen. Jede Mannschaft poliert die Eisfläche vor ihrem Stein: Kein Körnchen soll die Reibung mindern.
Manche Eltern verwechseln ihre Kinder ebenfalls mit Curlingsteinen und räumen jedes Steinchen und jedes Hindernis aus dem Weg. Sie setzen sich mit dem Kind in den Sandkasten, machen selbst Spielvorschläge und lösen die Konflikte zwischen den Kindern lieber selbst. Vergessener Turnbeutel oder liegengelassenes Frühstück? Wird prompt von Mama in die Schule geliefert. Eine schlechte Note in der Mathearbeit? Muss in der nächsten Lehrersprechstunde korrigiert werden.
Kinder selbst machen lassen
Ja, Kinder sind in den ersten Monaten und Jahren ihres Lebens von ihren Eltern abhängig und brauchen deren Nähe genauso, wie ihre Liebe und Verbundenheit. Doch irgendwann muss jedes Kind seinen ersten Schritt alleine gehen. Und stolpert, stößt sich und fällt auch einmal hin.
Es lernt dabei: Ich kann das alleine, wird mutiger und wagt sich auch an schwierigere Aufgaben und übersteht die nächste Turbulenz, auch Krise genannt, schon sicherer.
Der amerikanische Psychoanalytiker Erik Erikson war sich sicher, dass Krisen für die Entwicklung der Persönlichkeit wesentlich sind:
Es sind »notwendige Prozesse, die Evolution und Veränderung antreiben. Krisen sind Situationen, die uns erlauben, uns zu ändern, zu wachsen und mehr über uns zu lernen.«
Erikson sagt, dass jeder Mensch Erfahrungen macht und dabei immer wieder etwas Neues lernt. Andernfalls würden wir in der Entwicklung stecken bleiben. Jedes Leben besteht nach Erikson aus acht Phasen und jede dieser Phasen ist von einer ganz bestimmten Krise oder Turbulenz bestimmt:
Zunächst ist das erste Lebensjahr eines Kindes von Vertrauen geprägt, wenn es rundum von den Eltern versorgt wird. Später nimmt es immer mehr von seiner Umgebung wahr und will diese entdecken. Dafür muss es die Angst überwinden, von der Mutter verlassen zu werden.
Turbulenzen in der Mitte des Lebens
Immer wieder kommen die Kinder in Turbulenzen. Können sie sich darin bewähren, wachsen sie. Werden sie dagegen behindert: »Ich mach das schon für dich, du bist doch noch so klein«, bleiben sie in ihrer Entwicklung zurück.
Doch es gibt nicht nur die Turbulenzen, die für das Wachstum der Menschen nötig sind, sondern auch diejenigen, die sich tief in persönliche Geschichten einschreiben.
Besonders in der Mitte des Lebens scheinen sich private und berufliche Turbulenzen gleichermaßen zu häufen.
Vielleicht musst du dich in dieser Zeit von deinen eigenen Eltern verabschieden, vielleicht trifft dich aber auch eine schwere Krankheit oder der Verlust deiner Arbeit. Viele Menschen können solche Krisen nur schwer verarbeiten.
Durftest du als Kind erleben, dass du Turbulenzen aus eigener Kraft überwinden kannst, steigt deine Belastbarkeit, auch Resilienz genannt. Dann kannst du spätere Krisen leichter meistern. Gehst du kleineren Turbulenzen nicht aus dem Weg, kannst du diese Resilienz im Alltag sogar trainieren. Du bist dann emotional gewappnet, falls du einmal eine große Krise bewältigen musst.
Pater Anselm Grün hat in seinen vielen Jahren als Benediktinerpater schon viele Menschen durch Turbulenzen und Krisen begleitet. Er schreibt darüber in seinem Buch: »Trau deiner Kraft«, dass es die Aufgabe in der zweiten Lebenshälfte sei, den Schatten, also das Unbewusste anzunehmen und zu akzeptieren. Wer dazu nicht bereit sei, wirft nach Grün entweder alle Werte über Bord oder wird zum Prinzipienreiter, der nur noch seine Art des Handelns zulasse.
Turbulenzen gehören zum menschlichen Leben dazu
Es sind weder Hindernisse noch Stolpersteine. Wenn du in eine Turbulenz geraten solltest, freunde dich mit ihr an: Aus den Steinen, die dir in deinen Lebensweg gelegt werden, kannst du viele ohfamoose Dinge bauen.
ohfamoos-Gastautorin Sylvia Hubele schreibt, lebt und wandert in Franken. Sie ist Journalistin und textet gerne für Webseiten und Blogs. Sie liebt es, gute Dinge zu kochen und lässt sich dabei von ihren zwei Katzen in die Töpfe schauen.
Foto: Pixabay
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