Offenes Ohr im Untergrund
Nein, sagt Christoph Busch, mit soviel Zuspruch hat er definitiv nicht gerechnet. Mulmig war ihm geradezu bei der Vorstellung, demnächst „da unten“ zu wirken. Steht in den Medien nicht immer, was in U-Bahnen alles Schlimmes passiert? Unglücke, Schubsereien, Aggression. Und genau da sollte bald sein Arbeitsplatz sein? Ein Ohr im Untergrund? Zuhören in Hamburg, so kann es gehen!
Der Mann, der seit dem 2. Januar im „Ohr“ sitzt, steht jetzt auf seinem Balkon, während wir telefonieren. Die Idee, aus dem gläsernen Kiosk inmitten der Hamburger U-Bahn-Station Emilienstraße eine Zuhör-Station zu machen, ist eingeschlagen. Mit Glück kann man ja heute überall hin, sagt Christoph Busch und ich denke, genau: Nicht zuletzt unser Blog gibt dem viel Raum. Aber mit wem, fragt der 71-jährige Drehbuchautor, redet man, wenn die Gefühle im Keller sind? „Freunde mögen es irgendwann nicht mehr hören oder man kriegt es von Bekannten plötzlich sogar um die Ohren gehauen. Und die Familie? Leidet mit. Menschen, die über Gefühle reden wollen, kommen also zu mir.“
Ich war noch nicht da. Doch „Das Ohr“, das mittlerweile auch aufgrund einer enormen Medienpräsenz fast eine kleine Institution geworden ist, fasziniert. Professoren schicken ihm Tipps über Gesprächstechniken, er taucht als gutes Beispiel in Sonntagspredigten auf. Talkshows fragen an. Man mag seine Idee, der Mann ist ein Sympathieträger. Was treibt die Leute an? Wonach sehnen sie sich so, dass so viele mit ihm oder über ihn reden wollen?
Zuhören in Hamburg für einen Tick mehr Glück
Denn eigentlich macht er „nur“ das: Abwarten dass jemand nicht die nächste U-Bahn nimmt, sich zu ihm setzt und redet. Über Gott und die Welt. Das, was er/sie loswerden möchte. Und Christoph Busch lauscht, nimmt sich Zeit für Zwischenmenschliches, geht in Kontakt. Ohne Konzept hat er es einfach gemacht. Die erste Frage an ihn war oft die nach dem Honorar. Kostet aber nichts. Ganz bewusst. Noch unfassbarer…
Die Gespräche und Emails, die ich mit Christoph Busch austausche, lassen deutlich spüren: Hier habe ich es mit einem sensiblen, empathischen Menschen zu tun. Der momentan in einem permanenten Prozess ist, wahnsinnig viel lernt und hofft, dass die Menschen, die sich ihm anvertrauen, „hinterher einen Tick glücklicher sind“.
Im Interview sprechen wir darüber, was „Das Ohr“ auch mit ihm macht!
Herr Busch, wie viele Geschichten haben Sie schon gehört?
Oh, das muss ich ausrechnen. Aber jeden Tag mindestens drei. Anfangs war ich fünf Tage vor Ort, jetzt drei. Ich muss das alles, was ich höre, ja auch verarbeiten. Wenn jemand nicht zu meinen Zeiten kann, kann man auch einen anderen Termin mit mir verabreden.
Der Performance-Künstler Michel Abdollahi sagte kürzlich: Viele rechnen gar nicht mehr damit, dass ihnen jemand zuhört und sie ausreden lässt. Auch Ihre Erfahrung?
Kann ich schlecht sagen, aber die Rückmeldungen auf mein Tun waren fast euphorisch: „Sie hören zu? Toll!!“ Die Vereinzelung in unserer Gesellschaft ist zumindest gefühlt enorm groß. Dass es so was wie mich gibt, scheint vielen unglaublich.
Das „nur“ Zuhören hat heutzutage einen sehr großen Wert, warum wohl?
Weil Zuhören viel mit Gefühl zu tun hat. Ich muss mich in mein Gegenüber hineinversetzen. Mit Gefühlen ist es aber schwieriger geworden. Mit wem redet man zum Beispiel über Trauer? Außerdem kann man ja auch ins Netz flüchten, seine Gefühle dorthin schmeißen. Chat-Rooms im Internet – Ausstieg jederzeit möglich. Live ist das eine ganz andere Anstrengung. Da werde ich direkt konfrontiert. Ich bin nicht gegen das Digitale, für Recherchen oder technische Sachen ist das richtig gut. Aber es ist oft eine Ersatzhandlung für’s Gefühlsleben.
Dominieren denn die unglücklichen Geschichten?
Leider ja. Glück können wir ja überall platzieren. Die ganze Werbung schreit ja vor lauter Glück! Aber schon Abiturienten stehen heute unter enormen Druck von zuhause. Sie wissen nicht wohin sie sollen, keine Luft zum Leben. Dann sag ich schon mal: Am besten schickst Du Deinen Vater…
Schon mal einer gekommen?
Nein, meine Bemerkungen sind oft auch ironisch und allein das kann befreiend wirken. Ich kann ja auch viel spontaner sein und bin in einer kreativen Situation. Ich bin kein Therapeut. Vielleicht habe ich manchmal Fragen wie aus der Familie – aber ich stelle sie anders. Ich fühle mich dann wie ein fremder Freund.
Und die schlimmeren Geschichten?
Ich habe viel mit Depressionen zu tun. Und ganz schwer auszuhalten: Kindesmissbrauch. Mitzubekommen, welche Konsequenzen das hat; wie die Menschen noch Jahrzehnte danach leiden. Man kann sich nicht vorstellen, was es für Eltern gibt!
Was macht das Zuhören mit Ihnen? Sie sagten in einem Interview, sie tun auch etwas für sich?
Anfangs habe ich gesagt: Nix. Aber dass ich abends nach Hause gehe, meine Familie umarme und alles ist wie immer, ist natürlich Quatsch. Ich mache eine „große Gefühlsschule“ durch. Ich teile Gefühle, die ich nie hatte. Wie ein Gefühlstraining, von dem ich jetzt noch nicht weiß, wohin es mich führt…
Sie haben im Vorgespräch auch gesagt, Menschen finden „ein kleines Glück da unten“, eine schöne Vorstellung… bekommen Sie davon ein Stückchen mit?
Aber ja! So viel gelobt wie in den letzten 3 Monaten wurde ich noch nie in meinem Leben. Und wenn manche in ihrem Unglück ein bisschen glücklicher weg gehen, vielleicht erleichtert, dann freue ich mich. Wenn ich einen Ratschlag gebe, dann mit dicken Anführungszeichen. Ich hatte und habe ja keine Mission, nehme kein Geld und was die Leute besonders gut finden, ist: Ich eiere nicht rum. Meine langjährige Erfahrung als Journalist und Autor hilft mir dabei.
Waren Sie auch schon mal überfordert?
Bestimmt. Oder nein, ich würde eher sagen, manchmal bekomme ich einen kleinen Schrecken, was es alles gibt. Und am ersten Tag war ich überrascht was das Zuhören, fast nur umgeben von Glas, mit den Augen macht. Abends fühlte ich mich, als habe ich mein Zimmer umgeräumt! Das ist richtige Arbeit auch für die Augen.
Damit hatte ich nicht gerechnet. Aber mit Aggressionen. Wenn man was von der U-Bahn hört, ist das ja selten was Schönes. Und wenn ich dann in so einem Kiosk was anstelle, was eigentlich nicht dahin gehört, das könnte ja provozieren. Das ist komplett ausgeblieben, keine Pöbelei, nix.
Was wünschen Sie den Menschen, die sich Ihnen anvertrauen?
Ich staune immer wieder, wie Menschen die Kurve gekriegt haben, und dass aus vielen trotz übelster Erfahrungen doch lebendige Erwachsene geworden sind. Und ich hoffe, dass der Tick Glück ein bisschen hält. Dass sie für sich sorgen. Dass sie sich nicht von der großen Angstmache anstecken lassen.
Ich werde oft gefragt, ob schon mal ein Politiker da war. War nicht. Ich brauche das auch nicht. Aber viele Politiker und andere sogenannte Entscheidungsträger geben sich gerne einfühlsam, wollen Vertrauen gewinnen, die Menschen abholen, nutzen Psychojargon: Bloß nicht über Geld reden. Denen wünsche ich, dass sie sich mal hier unten hinsetzen, die Augen auf machen: Das Glück ist oft auch eine Frage des Geldes.
Wie würden Sie einen Artikel über sich selbst betiteln?
überlegt… Also, „Das Ohr“ ist nicht schlecht. Ich höre übrigens von Geburt an nur auf einem. Ist auch der Arbeitstitel für mein Buch. „Sammler der Gefühle“ wäre auch nicht schlecht. Etwas mit Ohr und Gefühl..
Christoph Busch, der sich zum Abschluss unseres Gesprächs für meine „gründliche Vorbereitung“ bedankt, arbeitet und lebt in Hamburg Eimsbüttel. Die U-Bahn-Station Emilienstraße, wo er sein Ohr leiht, hat täglich etwa 8.900 Ein- und Aussteiger. Manche winken ihm aus den Zügen zu, wenn sie vorbei düsen. Man kennt „Das Ohr“, schätzt sein Zuhören in Hamburg. Ein Faible für spannende Orte hatte Busch offenbar schon zu Jugendzeiten, als er mit Freunden eine alte Windmühle in Wolbeck bei Münster zum „Arts Lab“ für Musik, Film, Malerei ausbaute.
Die Zukunft des Ohrs
Christoph Busch möchte, dass der Kiosk langfristig ein Ohr bleibt für alle, die eines brauchen. Die Hochbahn, zuständig für die Vermietung, sieht das mit Wohlwollen. Zuhören in Hamburg scheint gesichert zu sein.
Für den Fall, dass er nicht mehr genug Zeit findet, selber zuzuhören – zum Beispiel wegen der Arbeit an seinem Buch über Glück und Unglück unter der Erde – möchte er eine kleine Gruppe von Menschen sammeln, die statt seiner zuhören. „Aber ich werde auch dann immer wieder da unten sitzen. Es ist anstrengend, aber es tut gut.“ Und er ist gespannt, was sich ändert, wenn eine Frau das Ohr ist.
Kontakt: das-ohr@gmx.de
Dieser Artikel dürfte Dich auch interessieren: