Zum Verrückten in Kunst und Literatur…
… oder: Sind wir nicht alle ein bisschen Dada? Fragt Gastautor Dieter Fuchs und ist sich sicher: Nur wenige assoziieren sofort jene ernsten mentalen Krankheitsbilder mit dem Attribut ‚verrückt’. Sie verwenden den Begriff wohl eher salopp. Und die meisten, vermutet er, dürften – nicht ohne Sympathie – an all das denken, was uns auf absonderliche, auffällige Weise als ungewöhnlich, ausgefallen, ja vielleicht etwas närrisch erscheint.Was ist das Verrückte in der Kunst?
Sind wir nicht alle ein bisschen Dada? Wenn Du jetzt jovial zustimmen kannst, wirst Du Dich an eine über zwanzig Jahre alte Limonadenwerbung erinnern. Stimmt’s? Vor allem die schon etwas Älteren dürften schmunzeln… Kein Wunder also, dass jener Slogan um die damals beliebte Bluna tatsächlich zu einem geflügelten Wort wurde und in den Medien auch heute noch gerne und vielfach Verwendung findet.
Zwischen drögem Massentrend und peppiger Individualität
Mit der Endung „Gaga“ bereicherte dieser Spruch dann die öffentliche Diskussion um das gesellschaftliche Spannungsfeld zwischen drögem Massentrend und peppiger Individualität, vielleicht gut pointiert durch Mega-Stars wie Lady Gaga in ihren verrückten Kostümen und faszinierenden Auftritten. Diese stand ganz in einer langen Tradition von künstlerischen Bemühungen, uns mit Verrücktheiten nicht nur zu unterhalten, sondern auch verstörend aufzurütteln.
Immer wieder versuchten bestimmte Richtungen auch in der „hohen“ Kunst und Literatur, uns aus der alltäglichen Logik herauszurücken. Uns also stattdessen psychologisch in eher ungewohnte Erlebensbereiche zu versetzen. Der von dort quasi externe Blick auf die Wirklichkeit rückt diese anders ins Bild, spitzt zu, ja stellt manches bislang vermeintlich Eindeutige in ein plötzlich diffuses Licht. Solche Verrücktheiten erweitern unseren eigenen, inneren Horizont, da sie uns zwingen, uns gegenüber der Realität neu zu positionieren, vieles darin zu hinterfragen – oder uns ihr gar zu verweigern.
Die Nonsense-Literatur im 19. und frühen 20. Jahrhundert zelebrierte in diesem Sinne geradezu das „Verrückte“.
Sie zeichnete sich im Gegensatz zum Alltagsbegriff des ‚Unsinns’ durch eine regelhaft betriebene Sinnverweigerung aus. Die Texte wirbelten die Sinnerwartungen der Leser durcheinander, indem sie von paradoxen Aussagen, leeren Vergleichen und völlig unverständlichen Metaphern sowie sinnfreien neuen Wortschöpfungen geprägt waren.
Ringelnatz und Morgenstern und der literarische Nonsense
Neben Klassikern wie Edward Lear und Lewis Carroll wurden bei uns vor allem Joachim Ringelnatz und Christian Morgenstern als Vertreter des literarischen Nonsense bekannt. Die „Galgenlieder“ des Letzteren sind für mich persönlich ein Höhepunkt dieser Bewegung. Christian Morgenstern stellt dem Realismus seiner Zeit eine wunderbar bewegliche, im besten Sinne des Wortes verrückte und ver-rückende Welt voller Mehrdeutigkeiten und Unauflösbarkeiten entgegen. Er entlarvt die weitverbreitete naive Vernunftsgläubigkeit, kämpft subtil gegen starre Ordnungen und fragwürdige Ideale an.
Damit gestaltete er bereits Anfang des 20. Jh. eine Idee aus, die viel mehr war als einfacher Sprachwitz – er formte eine tiefsinnige Revolte gegen den damaligen traditionalistischen Zeitgeist, noch ehe Surrealismus und Dadaismus sich zu formieren begannen.
„Sind wir nicht alle ein bisschen Dada?“
Und damit schließt sich der Kreis zum Anfang dieses Beitrags und wir sollten uns fragen ob es nicht schön wäre, ohne Zögern mit „ja“ auf die Frage „Sind wir nicht alle ein bisschen Dada?“ antworten zu können.
Der Dadaismus, kurz DADA genannt, nahm vor fast genau 100 Jahren unter Protagonisten wie Hugo Ball und Hans Arp Formen an und tobte sich auf nihilistische Weise gegen die bürgerlichen Ideale und jede Form konventioneller Kunst aus.
Dass der Geist des DADA auch heute noch lebt und die Fantasie und Kreativität zeitgenössischer Künstler und Schriftsteller reizt, sieht man an einem Anthologie-Projekt des Freien Deutschen Autorenverbandes FDA Bayern im Jahr 2016. Aus diesem online kostenfrei verfügbaren Kompendium voller ganz in der DADA-Tradition stehender Verrücktheiten findet ihr unten als Beispiel einen meiner eigenen Beiträge hierin.
Hier der Link zum ganzen eJournal DADA:
In diesem Sinne wünsche ich uns allen eine heiter-verrückte, immer wieder neu justierte Auseinandersetzung mit der Realität unseres Alltags.
Denn voll das gute Leben ohne ein bisschen Verrücktheit wäre doch kaum denkbar – oder?
Dieter R. Fuchs liebt die Vielfalt und das Leben. Nachdem ihn sein bewegtes Berufsleben als Forschung-Manager und Wissenschaftler fast durch die ganze Welt geführt hat, genießt er es nun, im Ruhestand in München, seine Erfahrungen und Begegnungen literarisch aufzuarbeiten und andere hieran teilhaben zu lassen. Was für ihn neben der Partnerschaft mit seiner Frau Ulla wertvoll ist: Fremde Kulturen, Kunst und ein immer wieder neu belebender Austausch mit Menschen aus der ganzen Welt!
Fotos: Unsplash (Marc-Olivier Jodoin und Federica Campanaro) sowie via Dieter Fuchs
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