Interview mit einer Macherin von #Heimatland
Ein Film bewegt ein Dorf, genauer: Widdersdorf. Konkreter ausgedrückt: Widdersdorf tobt. Denn ein Team hat für den WDR im Kölner Westen recherchiert und gedreht – und daraus die „Story im Ersten“ gemacht: Heimatland. Ausgestrahlt zur Primetime nach der Tagesschau. Umgehend folgt der große Kater: „Unverschämt“, „unglaublich“ – um nur einige der Reaktionen zu nennen, denn die Kanäle im sozialen Netz laufen über. Es soll auch positive Rückmeldungen geben, wir haben im Netz keine gesehen. Elke Tonscheidt, selbst seit einem Jahr Widdersdorferin, hat mit einer der Filmemacherinnen gesprochen: Julia Friedrichs (39) gibt Auskunft, was sie über den Unmut denkt und was sie ausdrücken wollte.
Warum interessieren Sie sich so für das Thema Heimat?
Vorab ist mir eines sehr wichtig: In einem früheren Blogbeitrag schrieben Sie kürzlich von einem angeblich konstruierten Filmbeitrag und dem Vorwurf der Manipulation, der in einem Online-Artikel geäußert wurde. Das weise ich nochmals ganz entschieden zurück, und es wurde in der Zeitung längst richtig gestellt. Einmal mit Stellungnahmen von uns in dem Artikel, auf den Sie sich beziehen. Außerdem gab uns der Kölner Stadt-Anzeiger, der den Film in einer Ankündigung übrigens sehr gelobt hat, die Gelegenheit zu einem ausführlichen Interview, das am Samstag zu lesen war.
Und zu meiner konkreten Frage?
Zu Ihrer konkreten Frage: In der ersten Staffel des Projektes „Docupy“ haben wir uns mit Ungleichheit beschäftigt. Das ist für viele Menschen ein großes Thema, weil sie sich fragen, wo denn ihr Platz ist – angesichts steigender Unsicherheit. Zudem diskutiert Deutschland seit 2015 zum Teil aufgebracht über den Zuzug von Geflüchteten. Dahinter steckte für uns die sich daraus ergebende Frage: Wie gehen wir mit Themen von Identität und Heimat eigentlich um? Wo ist mein Zuhause, wenn Dinge sich schnell ändern? So sind wir auf das Thema Heimat gekommen.
Der Beitrag hat hier in Köln einen riesigen Sturm an Entrüstung ausgelöst, kurz: Widdersdorf tobt. Haben Sie das erwartet?
Bei uns kommt im Moment beides an, aber dass ganz Widdersdorf tobt, bislang nicht. Ja, es gab Ablehnung und auch an einigen Stellen Empörung, aber, und das ist mir sehr wichtig: viel Zuspruch. Die Familien, die im Film vorkommen, fühlen sich keineswegs falsch beschrieben, wie Sie vermuten. Bis auf eine Familie, sind alle Protagonisten insgesamt sehr zufrieden mit der Berichterstattung und bekommen auch von Nachbarn und aus dem Ort positives Feedback.
Und wie stehen Sie zu dieser Empörung?
Natürlich bedauere ich immer, wenn Menschen sich grob missverstanden fühlen. Deshalb ist mir wichtig zu sagen, dass wir unsere Arbeit sehr sorgfältig und gewissenhaft gemacht haben; wir waren über sechs Monate insgesamt vier Wochen immer wieder vor Ort. Dass es in Widdersdorf jedoch zwei Lebenswelten gibt, alt und neu, dass zum Beispiel der Jakobsplatz nicht zum blühenden Dorfzentrum geworden ist, dass es Facebook-Gruppen gibt, in denen sehr erregt diskutiert wird – das sind Dinge, die wir über lange Zeit recherchiert haben. Und wenn im Nachhinein der Vorwurf aufkommt, wir würden den ganzen Ort diskreditieren, dann sehe ich das in dem Film nicht. Ich sehe, dass sich Menschen in Widdersdorf wohl fühlen, und das haben wir auch gezeigt.
Und das stört nun wieder Sie?
Mich stört, wenn nun Behauptungen aufgestellt werden, dass im Schnitt manipuliert wurde. Und, wenn einseitig berichtet wird. Deshalb weiß ich es zu schätzen, dass Sie mir Gelegenheit zu diesem Interview geben. Nochmal: Das weisen wir ganz deutlich von uns. Wir haben nach der Ausstrahlung mit einer Familie nochmals über ihre ausführlichen Interviewpassagen gesprochen – und danach haben auch sie gesagt, dass alles, was sie betrifft, bis auf eine unklare Berufsbezeichnung, korrekt wiedergegeben ist.
Die Hauptkritik zielt darauf, dass ein gutes Thema unnötig dramatisiert wird, denn natürlich gibt es in einem Wohngebiet dieses Ausmaßes Verbesserungspotential. Aber Sie sehen wirklich Gräben, gar Spaltungen? Wo konkret?
Wir sprechen in unserem Film ja nicht von „Gräben“. Wir beschreiben, dass in Widdersdorf zwei verschiedene Lebenswelten aufeinanderprallen. Eine der portraitierten Familien steht z.B. für ein bestimmtes Lebensmodell – sie möchten auf keinen Fall den Wohnort wechseln. Sie fühlen sich sehr verwurzelt. Und die andere Lebenswelt ist die, in der Mobilität eine ganz andere Rolle spielt. Diesen Aspekt hatte ich eingangs schon angesprochen. Man zieht häufiger um, fährt die Kinder in andere Stadtteile, wo sie ihren Hobbies nachgehen. Aber eine Bewertung wird nicht vorgenommen. Der Film urteilt hier nicht im Sinne, das eine ist schlechter als das andere.
Sie sehen zwar keinen Graben, aber im SZ-Magazin wird deutlich Spaltung geschrieben, und den Artikel haben Sie ja mitverfasst…
Genau, da sind wir uns einig. Ich sehe eine Spaltung in zwei Lebenswelten, aber wir würden nicht von zwischenmenschlichen Gräben sprechen. Im Großen und Ganzen sind wir in Widdersdorf auf diese beiden Lebensmodelle getroffen.
Ich bin vor einem Jahr in unsere Spielstraße gezogen und wurde begrüßt mit: „Herzlich willkommen, wir passen hier aufeinander auf.“ Warum kommen im Film die so typischen, spielenden „Straßenkinder“ nicht vor, die v.a. den neuen Teil so prägen?
Wir waren zu verschiedenen Jahreszeiten vor Ort, an verschiedenen Wochentagen, zu verschiedenen Tageszeiten. Und haben den Ort so gefilmt, wie wir ihn erlebt haben. Das, was Ihnen wichtig ist, kommt vor: auf Rollern fahrende Schulkinder, das Sich-Behütet-fühlen, das bildet der Film ab. Ich habe den Spielplatz aber auch häufig leer erlebt.
Mich wundert jedoch, wie Sie – außer an Vormittagen, an denen Menschen zum Arbeiten raus sind – so stille Straßen finden konnten…
Dass es Leben in den Gärten, in der Nachbarschaft untereinander gibt, das bestreite weder ich noch der Film! Uns geht es vor allem um eine Frage: Ist hier etwas neues Gemeinsames entstanden? Die Freiwillige Feuerwehr hat uns z.B. gesagt: Von den Menschen aus dem Neubaugebiet engagiert sich kaum jemand bei uns. Ein Mitarbeiter des Investors hat uns seine Bedenken geschildert, am Jakobsplatz in Teilen einen Ort ohne gemeinsames Leben geschaffen zu haben.
Dennoch, ich finde Sie transportieren ein Bild, das so gar nicht mit dem übereinstimmt, was ich erlebe. Sie schreiben von „sauberen Joggingschuhen“, dass hier kein Unkraut wachse, die Straßen still seien – dieses Cleane, ja, das gibt es auch, aber das ist m.E. nicht das große Ganze… Wir haben da vermutlich schlicht unterschiedliche Wahrnehmungen, da kommen wir nicht zueinander. Was mich jedoch interessiert, wie geht es Ihnen persönlich nach so viel Unmut, den der Beitrag ausgelöst hat?
Erst mal freue ich mich, dass der Beitrag zu regen Diskussionen führt. Und die Kritik nehme ich sehr ernst. Wir wollen ja, dass sich Menschen auseinandersetzen, und ich habe auch keine Schwierigkeit damit, dass sich manche empören. Große Schwierigkeiten habe ich nur damit, wenn mit falschen Behauptungen unsere Arbeit diskreditiert wird. Filme bieten immer nur Ausschnitte und dafür haben wir mit größter Mühe gearbeitet. Gerade in Zeiten wie diesen sollte man solche Vorwürfe nicht leichtfertig machen…
Aber nochmal zu Ihnen persönlich, wie gehen Sie mit der Kritik um?
Wie gesagt, wir erleben in diesen Tagen beides, Lob und Kritik. Mit beidem setzen wir uns intensiv auseinander. Was mir noch wichtig ist: In vielen Zuschriften wird gefragt, warum man der Familie, die sich über das Neubaugebiet empört, eine solche Plattform gibt. Ich finde, dass Menschen, die schon lange da sind, das gleiche Recht haben, ihr Empfinden zu äußern. Das gehört zu einer ausgewogenen Berichterstattung.
Finden Sie die Familie* denn repräsentativ für den alten Dorfkern Widdersdorf?
Ja, und uns haben viele Widdersdorfer geraten, genau mit dieser Familie zu reden! Das seien Menschen, die das Dorf sehr geprägt hätten. Und sie haben auch weitere Alt-Widdersdorfer zu Gast gehabt, die im Film zu Wort kommen.
Aber für mich sind diese Leute in ihrer Verbitterung nicht repräsentativ… Hätte ich den Film gemacht, ich hätte mit ihnen natürlich gesprochen, ihnen jedoch nicht SO viel Raum gegeben.
Es ist ja kein Film, der sich monothematisch mit Widdersdorf beschäftigt. Wir haben unseren Gesprächspartnern immer klar gesagt: Uns geht es um das ganz große Thema Heimat in Zeiten von Globalisierung und Wandel. Wir wollten wissen: Wenn schon etwas da war, wie entsteht etwas ganz Neues? Ausführlicher ist es im Magazin der Süddeutschen Zeitung beschrieben.
Sie sprechen die Berichterstattung im Magazin der Süddeutschen nochmals an – wenn Sie dort schreiben, mit Blick auf die Familie van de Sandt, ich zitiere: „Zu Widdersdorf haben sie keine emotionale Bindung, eher eine Geschäftsbeziehung.“ Ich kenne die Familie nicht persönlich, aber ich stelle das doch sehr in Frage…
Die Familie hat uns ihre Entscheidung für den Ort als Wahl für einen günstigen Standort beschrieben. Die gute Verkehrsanbindung spielt da zum Beispiel eine wichtige Rolle. Unser Anliegen war darzustellen, warum sie sich Widdersdorf ausgesucht hat. Die Antwort vieler war da: Weil es in ihre Lebensphase gerade gut passt. Es sind schlicht andere Blicke auf die Welt.
Ist der Knackpunkt vielleicht, dass man eine Entscheidung rational treffen und trotzdem ein gefühlvoller Mensch sein kann?
Absolut. Das haben wir im Film auch mit der Formulierung betont: „7000 Versuche heimisch zu werden.“ Auch über die Familie aus dem Neubaugebiet heißt es: Die Familie kann Wurzeln schlagen und auch wieder lösen.
*Damit ist die Familie gemeint, die gleich zu Beginn des Filmbeitrag interviewt wird und Bienen züchtet.
Soweit unser Interview, das ich am 1. März 2019 telefonisch aufgezeichnet habe und das anschließend autorisiert wurde. Julia Friedrichs ist Mutter von zwei Kindern und lebt seit 2002 in Berlin-Kreuzberg. Sie ist im Münsterland aufgewachsen, in einer klassischen Eigenheim-Siedlung aus den 70er Jahren. Studiert hat sie in Dortmund.
Abschließend eine Zuschrift, die ich von Ermal Krasniqi bekam. Sie steht stellvertretend für viele andere Statements, die ich bekommen habe. Ich habe explizit auch danach gefragt, wer den Filmbeitrag positiv betrachte. Es kam lediglich ein Hinweis eines Anwohners, der auf Münchner Freunde verwies, die Widdersdorf „so schön vom Aussehen“ fanden. Gleichzeitig aber die Spaltung bedauerten.
Ermal Krasniqi jedenfalls lebt seit 2007 in Widdersdorf; ich habe ihn gefragt, ob ich das veröffentlichen dürfe, was er freudig bejaht hat, denn er schreibt:
„Liebe Frau Tonscheidt, ich würde mir mal eins der vielen Straßenfeste in der Nachbarschaft anschauen, wo seit über 10 Jahren tolle Freundschaften und mittlerweile Traditionen entstanden sind. Ich habe vorher 20 Jahre in Müngersdorf gewohnt – da gab es so ein schönes Miteinander und Füreinander wie in Widdersdorf nicht. Meine 3 Kinder sind in Widdersdorf zur Welt gekommen und gehen hier gemeinsam mit Nachbarskindern in den Kindergarten oder zur Schule. Mich würde es interessieren, was die Kinder antworten wenn man ihnen die Frage stellt, ob Widdersdorf Ihre Heimat ist. Für meine Kinder ist es ihre Heimat und der schönste Ort der Welt.“
Für mich hat Julia Friedrichs jedoch eine auch mir wichtige Frage aufgeworfen:
Wie sieht denn Widdersdorf in sechs bis sieben Jahren aus, wenn alle nun noch kleinen Kinder Teenager sind?
Das ist tatsächlich eine Frage , die sich nicht nur aus Sicht der Stadtentwicklung stellen wird. Und ich kündige allen Lesern schon jetzt an, dass ich an einer Veranstaltung hier in Widdersdorf feile, um im großen Rahmen über unsere Zukunft nachzudenken. Einladung folgt – und wir laden dazu gern auch offen-gesinnte Medien ein. Denn wir schätzen das Handwerk von Journalisten nach wie vor sehr.
Text und Fotos: Elke Tonscheidt