Was macht Ihr eigentlich mit den Jungs?
Michèle Halder hat schon oft für uns geschrieben. Über Heimat, Freiheit, das Durchstarten und auch gesellschaftspolitische Themen greift sie gern auf. Ihr Artikel heute gilt den Jungs. Sie meint, dass es kleine Männer schwerer haben. Und Mädchen leichter. Klar, dass Sonja mit vier Söhnen und Elke mit immerhin einem Jungen da ganz neugierig waren, mehr zu erfahren …
Es ist ja schon eine ganz Weile her, dass meine Tochter (ich habe nur ein Kind) ein kleines Mädchen war. Sie ist mit Jungs aufgewachsen, da alle anderen in unserer Umgebung Söhne hatten. Als damals der Kindergarten losging, war unsere Tochter gemeinsam mit ihren Kumpels dort. Seit dieser Zeit tun mir die Jungs leid.
Mädchen haben es heute sehr viel leichter
Denn: Ich habe deutlich merken können, dass ein Mädchen es heutzutage sehr viel leichter hat. Dass sich das nicht geändert hat, sehe ich auch jetzt, 20 Jahre später, noch immer. Denn ich habe eine 8jährige Nichte und einen 6jährigen Neffen. Ich kann also bestens beobachten, welch’ große Unterschiede es im Leben der beiden gibt.
Ich kenne noch diese ultra-dämlichen Sätze wie: „Mädchen brauchen keine Ausbildung, die heiraten ja sowieso.“ Oder: „Wir möchten keine Frau einstellen, das Risiko einer Schwangerschaft ist uns zu hoch“. Es war eine ganz gruselige Zeit für weibliche Wesen, doch Vieles hat sich seitdem verbessert.
Heutzutage sind es die Jungen, deren Leben – beginnend mit der Grundschulzeit – erheblich erschwert wird. Ich verallgemeinere jetzt der Einfachheit halber einmal, denn mir ist schon klar, dass jedes Kind anders ist und jedes individuelle Bedürfnisse hat. Aber ich habe beobachten dürfen, dass Jungen körperlicher sind als Mädchen, einen größeren Bewegungsdrang haben und weniger durch Erklärungen als durch Erleben und Erfahren lernen.
In der Schule aber werden die kleinen Kerle an ihren Stühlen fest getackert. Rangeleien, wie sie nun mal für Jungs notwendig sind um herausfinden zu können, wer nun das Alphatier ist, sind verpönt.
Stuhlkreise sollen Probleme lösen. Das aber ist ein weiblicher Ansatz.
Für die Mädchen selbstverständlich, denn wir lösen Konflikte gerne verbal. Für die Jungen nicht einfach, denn ein Platzhirsch ist ein Platzhirsch – und er muss halt manchmal schubsen.
Bitte nicht missverstehen, ich möchte hier weder gewalttätiges Verhalten fördern oder Aggressionen unterstützt wissen. Ich möchte um Verständnis für die Andersheit von Jungen werben. Denn Jungen wird recht früh klar gemacht, dass allein die Tatsache, ein Junge zu sein, schon unbequem ist.
Artgerechte Haltung sollte für Alle gelten
So haben wir uns Mädchen früher auch gefühlt. Du hast verloren, einfach weil du ein Mädchen bist. Was ich traurig finde, ist, dass der Spieß einfach nur umgedreht wurde. Wir haben anscheinend immer noch nicht gelernt, dass artgerechte Haltung für Alle gelten sollte.
Ich war und bin eine kämpferische Feministin. Ich bin mein Leben lang für Gleichberechtigung eingetreten und aufgestanden. Bis heute vermisse ich, dass der Wunsch nach Gleichberechtigung die Unterschiede zwischen männlich und weiblich nicht berücksichtigt. Ich denke aber, dass Gleichberechtigung erst dann wirklich existiert, wenn alle Unterschiede berücksichtigt werden und man keinen Nachteil erfährt, wenn man nicht in ein Schema passt.
Lasst die Jungs Jungs sein. Seid klüger als die Generationen vor uns und bewegt Euch hin in eine Welt, die Menschen gleich behandelt, nicht gleichmacht.
Mehr über die ohfamoose Michèle Halder findet ihr in der Rubrik Gäste & Freunde.
Und bei einem so polarisierenden Thema freuen wir uns auch auf viele Kommentare…
Fotos: Elke Tonscheidt
Worauf will der Artikel hinaus? Offenbar bittet er um Verständnis für Verhaltenstendenzen, die im sportlichen Wettbewerb wunderbar ausgetobt werden können. Gibt es an den Schulen heute keinen Sportunterricht mehr? Ich bezweifle, dass die Unterrichtsmethoden von damals nur für Mädchen und nicht auch für Jungs schlechter waren als die von heute. Und was wäre für Lehrer ein optimaler Umgang mit den „Platzhirschen“ der Schule? Ist der dann auch optimal für jene MitschülerInnen, die unter dem Platzhirsch-Gehabe leiden? Was wären Jungs- und Mädels-freundliche Alternativen zum erwähnten Stuhlkreis?
Hallo Jannechie, zuerst einmal: Danke, dass du Fragen stellst und mich aufforderst, meinen Standpunkt näher zu erklären. Ja, ich bitte auch um Verständnis für gewisses Verhalten. Und der Sportunterricht reicht bei Weitem nicht aus, um den Bewegungsdrang vieler Jungen und auch Mädchen zu befriedigen. Und die Unterrichtsmethoden aus den 1960er Jahren wünsche ich gar keinem Kind mehr. Die Aufgabe einer Lehrkraft sehe ich darin, den „Platzhirschen“ ruhig auch einmal zu lassen und die anderen darin zu stärken, damit umzugehen. Dazu sind unter Anderem Stuhlkreise gut geeignet. Und für Besprechungen und zur Findung von Konsensen. Ich plädiere allerdings für den Umgang mit Unterschieden, gegen Gleichmacherei anstelle von Gleichberechtigung.
Gleichberechtigung fängt für mich dort an, wo wir unterschiedlich sein dürfen. Denn unterschiedlich zu sein macht unsere Welt bunt und vielfältig. Mir ist völlig egal ob ein Mann männlich, eine Frau weiblich oder transgender Menschen weder das eine noch das andere oder beides sind. Was ich aber weiß ist, das Frauen und Männer nicht nur durch ihre kulturell bedingte Erziehung unterschiedliches Verhalten und unterschiedliche Herangehensweisen an das Leben haben. Gestern, heute und morgen sicher auch noch. Lassen wir die rein biologischen Aspekte einmal außen vor, so denn noch Entwicklungsgeschichtlich so viele Unterschiede in den verschiedenen Geschlechtern manifestiert, dass es hier zu lang wäre, alle aufzuzählen.
Ich bin Jahrgang 1960. Die spießigen, kleinkarierten 50er waren vorbei, die Welt voller Aufbruchstimmung. Frauen begannen, ein neues Selbstverständnis zu entwickeln und als ich ein Teenager wurde war mir klar, ich wollte unbedingt Anteil haben, für die Gleichberechtigung und Selbstbestimmung von Frauen zu kämpfen. Was ich schon damals nicht wollte war, ein besserer Mann zu sein oder Männer dafür zu unterdrücken, dass sie uns so lange klein gehalten haben.
In all der Zeit war und bin ich eine überzeugte Feministin. Ich bin begeistert von dem Selbstverständnis, das junge Frauen heute haben. Das ist ein echter Fortschritt für mich.
Ich weiß auch, dass es in jedem Menschen mal mehr mal weniger weibliche oder männliche Anteile gibt. Genauso wie jeder Mensch unterschiedlich ist, wir aber als Deutsche, Italiener, Russen, Amerikaner, Chinesen oder, oder, oder gewisse Gemeinsamkeiten haben.
Ich glaube, dass Gleichberechtigung aus Verständnis erwächst. Wenn man den Anderen so sein lässt, wie er-sie-es-oder-was-auch-immer eben ist. Wenn man nach dem Wesen, dem Charakter entscheidet. Nach Befähigung und Qualifikation. Nicht nach Geschlecht.
Ich für meinen Teil finde es schön, dass es die Unterschiede gibt. Und ich finde es großartig, das wir Frauen zu etwas fähig sind, dass niemand sonst kann: Leben in uns zu tragen! Allein das macht uns schon anders. Nicht besser, nur anders.
Wenn wir gemeinsam darauf hinarbeiten, einander mit allen Unterschieden wahrzunehmen und uns auf die Unterschiede einlassen, sind wir auf einem guten Weg.
Erlauben wir uns klischeehaft zu sein. Oder es zu lassen. Erlauben wir uns zu sein. Vor allem aber erlauben wir uns, artgerecht behandelt zu werden.
Hallo Michèle, danke für deine sehr ausführliche Antwort. Wie ich dich verstehe, siehst du an den Schulen von heute ein Problem, welches primär die männlichen Schüler betrifft. Diese sollten deines Erachtens von ihren Lehrern und Erziehern anders behandelt werden als weibliche Schüler, richtig? Als Beispiel für typisches Jungen-Verhalten nennst du Rangeleien und Schubsen. Was wäre da eine „artgerechte Behandlung“? Und worin unterscheidet sich diese davon, wie seitens der Lehrer auf schubsende, rangelnde Mädchen reagiert werden sollte?
Du schreibst, Gleichberechtigung bedeutet für dich, unterschiedlich sein zu dürfen. Widersprichst du damit nicht deiner Forderung nach „artgerechter“ Behandlung? Oder meinst du mit „artgerecht“ eigentlich „individuell“? Wenn ja, dann können wir die Gender-Polarisierung beim Schulthema außen vor lassen …
Liebe Jannechie,
zuerst ja, ersetzen wir gerne „artgerecht“ durch individuell. Und ja, gerade Grundschulkinder sollten meines erachtens nach viel individueller behandelt werden, als es derzeit geschieht. Das mag den viel zu großen Klassen geschuldet sein oder dem System an sich. Und ich habe natürlich verallgemeinert und Gerangel und Geschubse als jungenhaft klassifiziert. Das sollten einfach Beispiele für das ausgeprägt körperliche Verhalten sein. Natürlich machen Mädchen das auch, aber eben weniger. Ich spreche immer allgemein und lasse Einzelfälle außen vor. Und nein, ich widerspreche mir ganz und gar nicht. Ich möchte, dass Jungen verständnisvoll behandelt werden, wenn es ihnen schwerfällt, still zu sitzen. Ich möchte, dass Mädchen verständnisvoll behandelt werden, wenn sie vorsichtiger an manche Dinge herangehen. Und ich möchte, dass wahrgenommen wird, dass Männer und Frauen eben nicht gleich sind. Wären sie es, hätte sich unsere Spezies, unsere Kultur ganz anders entwickelt.