„Beziehung kommt an Grenzen“
Geht Euch das auch so? Manchmal meine ich, ich sei von Coachs umzingelt. Haben wir so viel Beratungsbedarf? Und wer darf sich eigentlich Coach nennen? Ich habe mit Nicole Reimer darüber gesprochen. Wir kennen uns seit der Schule, gingen sehr unterschiedliche Wege und ich bin beeindruckt von dem, was sie macht. Nicole berät nicht nur große Firmen und kleine Start-ups, sie ist auch zur Paarberaterin ausgebildet. Dazu sagt sie im folgenden Interview u.a.: „Unsere Partner sollen unsere Bedürfnisse erfüllen und uns glücklich machen… Mit diesem Bild kommt Beziehung an Grenzen.“
Nicole, heute gibt es Coachs wie Sand am Meer. Hast Du Zahlen, von wie vielen wir circa sprechen?
Nicole Reimer: Nach Aussage des Roundtable der Coachingverbände (RTC), eine Interessensgemeinschaft der wichtigsten deutschsprachigen Coachingverbände, gibt es aktuell ca. 14.000 professionelle und ausgebildete Coachs auf dem deutschen Markt. Zusätzlich bieten geschätzte 50.000 selbsternannte Coachs, die nicht über eine zertifizierte Qualifizierung verfügen, ihre Dienstleistung an.
Der Begriff „Coaching“ ist nicht geschützt…
Genau. Sicher gibt es unter Letztgenannten sehr gute Leute und nicht allein das anerkannte Ausbildungszeugnis entscheidet über deren Qualität. Andererseits bin ich zuweilen erschrocken, mit welcher Dreistigkeit manch eine(r) sich mit Heilsversprechen auf dem Markt präsentiert. Auch darüber, dass tiefgehende – sogar therapeutische – Methoden mal eben, quasi als „kleines Experiment“, eingesetzt werden, um möglichen Interessent*innen zu demonstrieren, was ein Coach alles drauf hat. Das halte ich für unverantwortlich.
Was rätst Du?
Ich würde bei der Coachwahl immer auf die Ausbildung achten und mich informieren, ob diese von einschlägigen Fach- und Berufsverbänden anerkannt ist. Das finde ich z.B. heraus, indem ich das Ausbildungsinstitut im Netz auf eine Zertifizierung prüfe. Oder schaue, ob ein Coachingverband angegeben ist. Tatsächlich sind jedoch offenbar nur etwa 30 % der Coachs in Verbänden organisiert – ich bin es auch nicht.
Wann könnte ein Coaching hilfreich sein, um sich ganz persönlich weiterzuentwickeln?
Coaching, verstanden als Unterstützung in der Persönlichkeitsentwicklung, kann in unterschiedlichen Lebenssituationen hilfreich sein. Zum Beispiel als Beitrag um Krisen zu überwinden und gesetzte Ziele zu verwirklichen.
Viele schrecken davor jedoch zurück…
Ja, vielleicht weil wir unsere Komfortzone ungern verlassen, denn sich auf einen Coachingprozess einzulassen heißt genau dies zu tun. Fragen, die uns bei der Entscheidung helfen, sind daher auch: Möchte ich aktiv etwas in meinem beruflichen Handeln oder in meinem Leben, meinen sozialen Beziehungen verändern? Und bin ich bereit meine Einstellungen, meine Werte und mein Verhalten zu reflektieren?
Du berätst systemisch-integrativ, hast Dich bei der Entscheidung für Deine Supervisionsausbildung für diesen umfassenden Ansatz entschieden. Warum?
Mir war es wichtig, unterschiedliche Theorien, Modelle und Methoden zu vertiefen. Ich bin davon überzeugt, dass die vielschichtige Arbeit mit Menschen und Organisationen und ihren Besonderheiten auch eine Vielzahl an Zugängen erfordert – es gibt nicht den einen „richtigen“ Weg.
Wie bist Du zur Psychologie bzw. zum Coaching gekommen?
Schon in meiner Jugend hieß es: „Du solltest etwas mit Menschen machen“. Ich hatte damals kein ausgeprägtes Bewusstsein für meine Stärken. Tatsächlich war ich offenbar ausgesprochen gut im Kontakt – ich habe in meiner Schulzeit Mitschüler intensiv in schwierigen Lebenssituationen begleitet. Manchmal erschien es mir so, als hätte ich auf die Stirn geschrieben „Komm zu mir, wenn Du ein Problem hast“.
Und, kamen sie?
Ja, ich erinnere mich auch an viele Situationen, in denen mich fremde Menschen ansprachen und mir aus ihrem Leben erzählten. Scheinbar konnte ich gut zuhören und war emphatisch. Das belastete mich jedoch zeitweise ganz erheblich persönlich – vielleicht der Grund, warum ich mich nicht für einen helfenden/heilenden Beruf entschied…
Du hast dann angefangen Psychologie zu studieren…
Nach der Geburt meines 1. Kindes, richtig. Da war mir schnell klar: Hier bin ich goldrichtig. Nach dem Studium habe ich mich dann zunächst auf die Change Management Beratung und die Begleitung von Führungskräften fokussiert. Im Laufe dieser Praxis habe ich mir weitere Schwerpunkte erschlossen; zuletzt mich in zwei Zusatzausbildungen der Paarberatung gewidmet.
Ich begleite Entwicklungsprozesse, sei es in Unternehmenskontexten oder in der Arbeit mit „Privat-Personen“. Mit Menschen an ihren Prozessen zu arbeiten, fühlt sich stimmig an und macht mir ungeheuer viel Spaß. Zumal ich mich heute im Gegensatz zu meiner Jugend professionell abgrenzen kann.
Du machst auch Paarberatung, das ist sicher vielschichtig …
Ja, sehr; und das hat viel mit den immensen Erwartungen, die wir heutzutage an die Partnerschaft stellen, zu tun. Früher war die Ehe eine strategische Partnerschaft, mit klaren Geschlechterrollen und einer definierten Arbeitsteilung, die Sicherheit und Zugehörigkeit versprach. Ende des 18. Jahrhunderts folgte die Partnerwahl dann mehr und mehr romantischen Idealen, doch sollte es noch lange dauern, bis insbesondere die Frauen, auch im juristischen Sinne, unabhängig von ihren Männern wurden und ihre Rolle in Ehe, Partnerschaft und Sexualität neu definierten.
Hast Du ein Beispiel?
Ester Perel, eine amerikanische Paartherapeutin, beschreibt die Entwicklung so: „Zuerst haben wir die Liebe in die Ehe geholt. Dann den Sex in die Liebe. Und schließlich haben wir das Glück in der Ehe mit sexueller Zufriedenheit gleichgesetzt.“
Heute laufen wir Gefahr unsere Beziehung mit Erwartungen zu überfrachten.
Wir suchen Geborgenheit, Stabilität, Vertrautheit und Sicherheit ebenso in der Partnerschaft wie Liebe, Intimität, Leidenschaft und Inspiration. Unsere Partner sollen unsere Bedürfnisse erfüllen und uns glücklich machen… Mit diesem Bild kommt Beziehung an Grenzen.
Wie hast Du Dich für die Paarberatung qualifiziert, was reizt Dich daran?
Aufbauend auf meine Supervisionsausbildung habe ich zwei einjährige systemische Weiterbildungen absolviert. Paare in ihren individuellen Themen- und Fragestellungen zu begleiten und zu sehen, wie heilsam und unterstützend die externe Perspektive sein kann, ist eine erfüllende Aufgabe. Auch wenn am Ende des Prozesses nicht alle Paare die Entscheidung für eine gemeinsame Zukunft treffen. Übrigens kommen nicht nur Ehepaare, auch Paare wie Mutter/Tochter oder Paare, die miteinander eine berufliche Partnerschaft und eine Beziehung leben – nicht immer ganz unkompliziert, wie Du Dir vorstellen kannst.
Wie erwähnt gibt es in Deinen Beratungsfeldern große Konkurrenz: Wie grenzt Du Dich ab?
Indem ich das Thema Lebenskunst aufgreife, als Metapher für die persönliche Sinnfindung, wiederkehrende Wertearbeit und die ganz individuelle Orientierung nach einem „gutem Leben“. Meine Impulse zur Lebensgestaltung in Form ressourcenorientierter Coaching-Angebote setzen ebenfalls hier an. Das sind Gruppen-Formate zur persönlichen Entwicklungsgestaltung, auch als ergänzendes oder alternatives Angebot zum Coaching.
Worum geht es da im Kern?
Um Selbstreflexion und Ressourcenarbeit. Wir sollten uns unserer Mittel und Eigenschaften zur Bewältigung von Anforderungen und Aufgaben bewusst sein. Du kannst auch sagen: Unserer gute Quellen, aus denen wir Kreativität und Motivation für unsere Entwicklung schöpfen. Wir besitzen sie, manche wie die (Wieder)Entdeckung der Intuition, sind schon immer da gewesen, andere haben wir bewusst oder unbewusst erworben.
Bedauerlicherweise können wir die eigenen Ressourcen nicht immer abrufen.
Und genau da hilfst Du?
Da setze ich an, genau. Denn nur Ressourcen, die uns kognitiv und emotional – also mental – bewusst sind, können wir in einer bestimmten Situation auswählen und gezielt einsetzen.
Und das zu erarbeiten klappt auch im Gruppensetting?
Ja, denn die Gruppe bietet einen geschützten Raum, sich zu „erfahren“. Also wie man/frau von anderen wahrgenommen wird. Ich meine: Lernen ist nur im Austausch mit anderen möglich, sprich ko-kreativ. Das heißt, ich brauche ein Gegenüber als Resonanz auf mein Denken und Handeln. Die Gruppe bietet mehr und vielfältige Perspektiven und Inspiration durch Ideen anderer.
Verliere ich mich da nicht schnell aus den Augen?
Gar nicht! Du arbeitest konzentriert und fokussiert an Deinen individuellen (Entwicklungs-)Themen, wie z.B. Deiner beruflichen Standortbestimmung oder persönlichen Sinnfindung, um nur mal zwei Beispiele zu nennen. Schwerpunkt ist, wie beim Coaching, die persönliche Reflexion. In der Gruppe kannst Du Dir ein gezieltes, mehrperspektivisches Feedback einholen und die Selbsterfahrung macht meistens viel mehr Spaß. Wir lachen echt viel…
Nicole Reimer ist seit 2004 selbstständige Beraterin in Köln. Die gelernte Werbekauffrau war zunächst elf Jahre in der Hotellerie und einer Eventagentur tätig, wo sie u.a. als stv. Direktorin eines Kölner Hotels arbeitete und den Vertrieb einer Agentur aufbaute. 2004 folgte der Abschluss als Diplom-Psychologin an der Uni Köln. Die Ausbildung zur Integrativen Supervision und Organisationsentwicklung und Weiterbildungen zur Systemischen Paartherapie und zur Hypno-Systemischen Sexualtherapie schlossen sich an.
Nicole arbeitet gern mit erlebnisaktivierenden, „kreativen“ Methoden, die den Teilnehmer*innen eine umfassende Betrachtung der eigenen Persönlichkeitsentwicklung und Motivation erlauben. Zielgruppe sind all jene Menschen, die aktiv etwas verändern möchten, weil sie durch Krisen oder neue Herausforderungen nicht mehr „weiter so“ leben wollen/können.
Fotos: Tanja Deuß, privat; – Graphik: Gerold Graw, arts-unique.de
Interessante Lektüre: Die Macht der Affäre
Dir hat der Artikel gefallen? Wir haben jede Woche zwei neue Berichte für Dich – jeweils montags und donnerstags bringt ohfamoos einen neuen Beitrag. Du bekommst ihn automatisch, wenn Du Dich auf der Startseite für unseren Email-Verteiler anmeldest (Ohoo lesen). Ein Klick und Du bist drin (wenn Du die anschließende Mail einmal bestätigst, darauf bitte achten). Easy, oder? Wir freuen uns auf Dich!