Stottern – Sag‘ es auf Deine Weise!
Gute Gastbeiträge erfreuen uns sehr – heute haben wir etwas Ungewöhnliches. Etwas, worüber wenig gesprochen wird: Das Stottern. Carola Steffen-Aufsfeld, Jahrgang 1948, ist auf uns zugekommen, weil sie stottert und die Erfahrung gemacht hat: Noch immer wissen viele Mitmenschen nichts oder wenig darüber.
Dabei, schreibt Carola, ist die Chance, einer oder einem Stotternden zu begegnen, gar nicht so klein. Immerhin leben in Deutschland mehr als 830.000 von ihnen. Und sie hat weiter recherchiert, denn vielleicht gibt es auch in deinem Bekannten- oder Familienkreis ein Kind, das Probleme mit dem Sprechen hat. Das ist meist eine nicht einfache Situation für alle Beteiligte, weiß Carola. Hier ihr Gastbeitrag.
Eigene Erfahrungen mit dem Stottern
Vor der Schulzeit fiel es mir nicht so sehr auf, dass ich anders als meine Familie sprach. Meine Eltern sagten nur oft, ich möge langsam sprechen und zuvor nachdenken, was ich sagen will.
In der Grundschulzeit wurde mir jedoch schnell bewusst, dass ich anders sprach als die anderen. Das Stottern wurde zum Problem. Besonders vorlesen war schlimm. Ich rechnete vorher aus, welchen Satz ich wohl lesen würde, um schon ein wenig still zu üben. Oft stimmte meine Berechnung dann doch nicht und ich quälte mich mit hochrotem Kopf durch den Text. Gemeldet hatte ich mich kaum, auch wenn ich es gewusst hätte. Ich glaube, meine Mitschüler verhielten sich recht fair mir gegenüber. Ich erinnere mich kaum daran, einmal gehänselt worden zu sein.
Ab Klasse 6 besuchte ich eine „Sprachheilschule“ in Hamburg und konnte in einer Klasse mit nur zwei Mädchen und zehn Jungen – alle mit ähnlichen Sprachproblemen – den Realschulabschluss machen. An diese Zeit erinnere ich mich gern. Die engagierten Lehrerinnen und Lehrer haben uns sehr gefördert, gefordert und viel Rüstzeug fürs Leben mitgegeben.
Meinen Wunschberuf Buchhandelskauffrau musste ich aufgeben. Es hieß, meine Art zu sprechen könne man den Kunden nicht zumuten. So begann ich 1965 eine Ausbildung bei der Deutschen Bundespost als Verwaltungsangestellte.
Zu einer Sprachtherapie habe ich mich erst im Alter von 35 Jahren durchgerungen.
Als Mutter von zwei schulpflichtigen Kindern nahm ich eine Stelle als Schulsekretärin in einer Gewerbeschule an. Dort, wo ich viel zu telefonieren und zu sprechen hatte, fühlte ich immer stärker, nun half kein Vermeiden und kein Verdrängen mehr. Nun musste ich mich dem Sprachproblem stellen. Auch das Ersetzen schwieriger Wörter durch Worte, die ich leichter sprechen konnte, einschließlich ganze Sätze umzustellen, war immer weniger möglich.
Nach einer Einzeltherapie schloss ich mich einer Selbsthilfegruppe an. Erstmals lernte ich andere erwachsene Stotternde kennen. Dort wurde mir bewusst, wie außerordentlich wertvoll der Austausch mit anderen Betroffenen ist. Als hilfreich empfand ich auch die Seminare der Bundesvereinigung Stottern und Selbsthilfe e.V., die Rhetorik mit Übungen im Sprechen vor Gruppen, bestimmte Sprachtechniken und Entspannung zum Thema hatten. Auch das Selbstverständnis, seinen Weg auch mit dem Handikap zu gehen, wurde immer wieder besprochen.
Das Gefühl, das Gemeinschaft stark macht
Ich traf viele interessante Menschen – allesamt Individualisten im Sprechen – mit unterschiedlich gelungenen Lebensentwürfen. Daraus entstanden gute Freundschaften und das Gefühl, dass Gemeinschaft stark macht. Dies wurde mir besonders deutlich, als ich ehrenamtlich im Landesverband Nord Stottern und Selbsthilfe mitarbeiten konnte.
Während dieser Zeit wuchs mein Mut. Ich bewarb mich erfolgreich als Schulsekretarin in einer Waldorfschule, später arbeitete ich in der Statistikabteilung der Schulbehörde Hamburg. Nach meinem Umzug nach Pulheim war ich 9 Jahre lang Schulsekretärin in einem Pulheimer Gymnasium und wechselte mit 55 Jahren in die Kulturabteilung der Stadt Pulheim. Dort arbeitete ich bis zum Ruhestand. Dies war eine besonders spannende Zeit, in der wir verschiedene Kunstprojekte, Ausstellungen, Konzerte, Theater und vieles mehr organisierten.
Immer waren meine Arbeitsplätze mit vielen Sprechsituationen verbunden. Je offener ich mit meinem Stottern umging, je weniger ich es als Problem sah, es einfach unwichtig wurde, umso flüssiger wurde mein Sprechen – ebenso im privaten Umfeld. Aber der Weg dorthin war weit und ich komme nun zum informativen Teil:
Was ist Stottern?
Das Stottern an sich und seine Ursachen sind noch nicht vollständig erforscht. Man kann aber folgendes dazu festhalten:
Stotternde Menschen hat es immer gegeben, in allen Kulturkreisen. 4000 Jahre alte Schriftstücke deuten darauf hin. Auch Moses soll gestottert haben. Sein Bruder Aaron hatte wohl darum meist für ihn gesprochen.
Jeder Mensch ist einzigartig, ebenso sein Sprechen. Viele Untersuchungen gehen davon aus, dass es sich beim Stottern um eine Koordinierungsstörung des Sprechapparates im Gehirn handelt. Die genetische Veranlagung spielt oft eine Rolle. Zumeist tritt eine Sprechstörung im Alter von zwei bis fünf Jahren auf, in einer Phase, in der sich das Kind in allen Bereichen besonders schnell entwickelt.
Wie die Umwelt auf Sprachbesonderheiten des Kindes reagiert, ist nicht unwesentlich, aber individuell verschieden. In der weiteren Entwicklung versucht das Kind das Stottern zu vermeiden, je nach der Reaktion seiner Umwelt. Es entsteht oft eine Spirale aus Angst und Vermeidung, die in vielen Fällen die Symptome verfestigt.
Darum ist es sehr wichtig, möglichst früh Hilfe anzubieten. Auch die Eltern brauchen Unterstützung.
Kita-Erzieher und Lehrer wissen oft noch zu wenig über das Stottern und wie den Betroffenen das Leben erleichtert werden kann.
Bis zur Pubertät kann das Stottern mitunter von selbst oder mit Hilfe einer Sprachtherapie verschwinden. Wenn nicht, begleitet es einen ein Leben lang – in unterschiedlicher Ausprägung. Außer dem Umstand, dass die Worte nicht immer flüssig über die Lippen kommen, gibt es keine Besonderheiten bezüglich der Intelligenz oder anderer Fähigkeiten.
Ein prominentes Beispiel dafür ist der neu gewählte Präsident der USA, Joe Biden. Seit seiner Kindheit stottert er. Seine Symptome hat er allein und mit viel Energie bekämpft, unter anderem durch das Deklamieren von Gedichten vor dem Spiegel. Joe Biden steht dazu, ein Stotterer zu sein.
Wo gibt es Hilfe für Menschen, die stottern?
Die wichtigste Anschrift für Informationen ist die Bundesvereinigung Stottern und Selbsthilfe e.V., 50674 Köln, Zülpicher Str. 58; Email: info@bvss.de. Tel.: 0221 139 1106.
Ihr Motto heißt: Ich sag’s auf meine Weise.
Über alle Therapieangebote, die vielfältig sind wie das Stottern selbst, berät die Bundesvereinigung persönlich, am Telefon oder per Email. Für Eltern stotternder Kinder gibt es über die Bundesvereinigung spezielle Angebote und Seminare. Schulen und Kitas können sich dort ebenso informieren.
Bücher und Filme als Ratgeber, über das Stottern allgemein, über Selbsthilfe, Therapie – für Erwachsene, Kinder und Jugendliche – gibt es im Demosthenes-Verlag der Bundesvereinigung Stottern und Selbsthilfe e.V. www.bvss-shop.de
Für junge Menschen gibt es Flow – die junge Sprechgruppe der BVSS. Erreichbar auch per Email über: info@flow-sprechgruppe.de. Die Flow-Sprechgruppe ist zudem auf Facebook präsent.
Auf Instagram gibt es diese sehr interessante Gruppe: https://www.instagram.com/eeeisbrecher/ Sie hat eine Reihe informativer, supergut gemachter Filme erstellt rund um das Stottern, aber auch über Themen, die junge Leute allgemein interessieren. Hier die Links zweier Filme als Beispiele:
https://www.instagram.com/tv/CJJ0yEzKB-J
und in Kooperation mit dem FUNKonline Medienangebot (ARD und ZDF)
Hier auch ein YouTube-Kanal .
Ich schreibe dies alles, weil mir klar ist, wie viele stotternde Menschen und ihre Angehörigen noch nichts über die Möglichkeiten wissen, Hilfe und Unterstützung zu bekommen.
Vor einiger Zeit lernte ich eine junge Frau über ihren besorgten Vater kennen. Er machte sich Sorgen um seine Tochter, die sich in der Ausbildung zur Fremdsprachenkorrespondentin befand. Trotz großer sprachlicher Probleme bekam sie in mündlichen Prüfungen kaum Hilfe. Ihr Vater vermittelte ein Gespräch mit Marie und mir. Sie hatte zuvor noch nie einen anderen Stotterer getroffen und ich konnte ihr manches von mir erzählen und von der Möglichkeit einer Beratung durch die BVSS. Davon machte sie Gebrauch und nahm an einer zweiwöchigen stationären Sprachtherapie mit einer guten Nachsorge teil.
Diese Therapie war für sie erfolgreich und ich traf bei unserem nächsten Treffen auf eine selbstbewusste junge Frau mit vielen Plänen.
Auch wenn wir es uns anders wünschen, wird das Stottern uns als erwachsene Betroffene – mal mehr, mal weniger – immer begleiten. Die Entscheidung ist jedoch, sich davon nicht von seinen Lebenszielen abbringen zu lassen. Darum lautet auch mein Motto:
Ich sag’s auf meine Weise.
Die Cartoons stammen von Sigrid und Carsten Märtin. Vielen Dank. / Foto: via Piaxabay
Danke für diesen sehr informativen Beitrag. Und coole Cartoons! Eine Frage noch: Wie reagiere ich als Zuhörende am freundlichsten, wenn das Gegenüber beim einem Wort steckenbleibt? Welche Reaktion hilft einem stotternden Menschen in so einer Situation am besten?
Liebe Janny,
das ist eine gute Frage.
Mir bekommt es am besten, wenn mein Gesprächspartner in diesem Fall den Augenkontakt hält, abwartet und nicht das Wort oder den Satz für mich zuende spricht.
Schön ist auch, wenn mein Gesprächspartner Geduld ausstrahlt.
Ist nicht immer leicht, je nach Situation.
Die Flow-Sprechgruppe der Bundesvereinigung Stottern und Selbsthilfe – nicht nur für junge Menschen – ist auch auf Instagram aktiv:
https://www.instagram.com/flowsprechguppe