Das multimediale Tagebuch über die Ahrtal-Katastrophe
Ahrtal 2021. Jeder kann sich an die Flutkatastrophe erinnern – aber auch an all die, die dort freiwillig geholfen haben? Markus Wipperfürth, einer der ersten Spontanhelfer im Ahrtal, und die Journalistin Sandra Fischer bezweifeln das. Und sie möchten, dass dieses Engagement niemals vergessen wird. Ihr Buch „Wegen dir bin ich hier“ ist ein zeitgeschichtliches Dokument zum Lesen UND Anschauen.
Wenn nichts mehr ist, wie es war. Wenn sich alles schlagartig verändert. Das haben die Menschen 2021 im Ahrtal erlebt, erleiden müssen. Aber auch das kennengelernt: SolidAHRität. Das alte Leben bricht weg, ein neues beginnt – und es dauert Monate, bis es sich setzt. Was bleibt?
Markus Wipperfürth hat es in „Wegen dir bin ich hier“ auf 224 Seiten festgehalten: Die Not, das Erschrecken, die Verzweiflung, die Wut. Aber auch die Anerkennung, die Freude am Teilen, die Dankbarkeit. Er war einer der ersten Spontanhelfer, fuhr noch in der Nacht auf seinem schwarzen Trecker (der „kleine Schwarze“) ins Ahrtal, erlebt dort die krassesten Tage, Wochen, Monate seines Lebens. Nichtsahnend. Erst denkend, es ginge um Tiere, die zu evakuieren sind. Denn Wipperfürth ist Landwirt, betreibt im Rhein-Erft-Kreis vier Reitanlagen – und auch diese waren aufgrund des Starkregens betroffen.
Und dann, als er sich auf den Weg ins Ahrtal macht, begreift er immer mehr, um was es geht: Um die, gemessen an der Opferzahl, schwerste Naturkatastrophe in Deutschland seit der Sturmflut 1962. 134 Menschen starben; mehr als die Hälfte der Toten stammte aus Bad Neuenahr-Ahrweiler. Und genau hierin zog es Markus Wipperfürth.
Mit gesamten Herzblut rein ins Ahrtal
Wer seinen Namen recherchiert, landet auf Wipperfürths Website. Dort steht:
„Für Projekte, die ihm wichtig sind, setzt er sich mit seinem gesamten Herzblut ein. Seine Kompetenzen reichen von social media, Reitplatzbau über Pferdepension bis hin zu landwirtschaftlichem Lohnunternehmen.“
Ein Mix, der ihm im Ahrtal zugutekommen sollte! Denn aus dem einfachen Traktoristen, als der er losgefahren war, avancierte Wipperfürth „mangels offizieller Entscheidungsträger und durch meine Reichweite schnell zum Knotenpunkt, dem Schwarzen Brett des Katastrophengebietes“, wie es in seinem Buch heißt.
Bei Markus Wipperfürth zum Gespräch
Als ich Markus Wipperfürth treffe, auf seinem Hahnenhof im Stommelerbusch, sind wir schnell im Thema. Ich bin gekommen, um zu erfahren: Wie stellt er sich die Lesung am 18. November 2022 in der Kölner Südstadt vor? Ich wollte mir das Buch, das druckfrisch im alten Schweinestall gestapelt wird, anschauen. Verstehen, was da konkret zum Bundesweiten Vorlesetag vorbereitet wird.
Und bin plötzlich mittendrin im Film dieser Riesengeschichte!
- Ich lerne, wie aus SocialMEDIA SocialMACHEN wird – so der Untertitel des Buches. Dass nicht nur Wipperfürths Geschichte der ersten fünf Tage dort aufgeschrieben ist. Sondern dass es vor allem auch ein multimediales Tagebuch ist, denn mehr als 180 Videos können per QR-Code abgerufen werden. Filme, die er in dieser Zeit vor Ort gemacht hat.
- Ich lese, wie Wipperfürth seine mediale Community nutzte, um Hilfe zu organisieren. Schaue mir, wieder zuhause, selbst diverse Filme an. Sehe, wie es damals war – ungeschönt, authentisch, oft erdrückend.
- Ich spüre immer mehr, was mit diesem Buch entstanden ist: Ein zeitgeschichtliches Dokument aus erster Hand.
- Ich sehe, was für eine unglaublich agile Facebook-Followerschaft Wipperfürth hat – und wie er diese noch heute täglich mehrfach filmisch einbindet, sie so an seinem Leben teilhaben lässt. Und wie er an sie in der Krise appelliert zu helfen und die Menschen sich in Bewegung setzen.
- Ich begreife, gegen wen sich Wipperfürths Kritik richtet: „Ich rede nicht gegen die Feuerwehr oder gegen das THW, ich rede gegen die Koordination von ganz oben, die hier gelaufen ist.“ (Seite 98) „Es kann nicht sein, dass man im besten Deutschland aller Zeiten jemanden kennen muss, der jemanden kennt, der wiederum jemanden in der Politik kennt, um selbst die einfachsten Dinge, die untersten Stufen der Katastrophenbewältigung, in Gang zu setzen.“ (Seite 120)
Großes Lob speziell für Bauern und Landwirte
Viele Bauern und Landwirte können dagegen – wie Wipperfürth selbst – schneller sein. Es sei „der Wahnsinn, was die Bauern auf die Schnelle so geregelt kriegen“, erinnert er sich.
„Gestern fühlten wir uns wirklich wie vor so einem riesen Haufen Trümmern, es war echt schwierig hier durchzukommen überall. (…) Wir haben jetzt richtig gut Hilfe gekriegt“, lautet meine Videobotschaft. Denn auf einmal sind Radlader da, Teleskoplader, Traktoren mit Anhängern voller weiterer Maschinen und Arbeitsgeräte, Pumpfässer, Kehrmaschinen und Pumpwagen.“ (Seite 31)
Dieses Buch hat es in sich. Wer anfängt zu lesen, kann das Buch nicht weglegen. Und das liegt auch an der Journalistin Sandra Fischer, die all das, was ihr Markus erzählt hat, aufgeschrieben hat. Oder wie Markus sagt: „Ohne Sandra hätte ich dieses Buch nicht schreiben können.“
Jeder Tag ein Ausnahmezustand
Als Sandra und ich telefonieren, sagt sie mir: „Jeder Tag war ja ein Ausnahmenzustand. In vielen, vielen Gesprächen konnte Markus, der alles in seinem Seelenschrank weggepackt hatte, all seine Erinnerungen und Erlebnisse loswerden und besser einordnen.“
Der Journalistin, die das Buch in „Ich-Form“ schrieb, ist da ein großes Erzählstück gelungen.
20.500 Bücher – so hoch ist die Auflage, viele Bücher sind schon vergeben, versteigert, fest reserviert. „Ganz heiss“, erzählt mir Sandra, sind die Leute auch auf das Lesezeichen, das jedes Buch begleitet: Kleine Gummistreifen, die per Handarbeit aus den Reifen des „kleinen Schwarzen“ herausgeschnitten wurden.
Das und vieles andere mehr erzählen Sandra und Markus in einem Interview mit Dieter Könnes, das ich Euch ans Herz lege:
Hommage an die freiwilligen Helfer
Für wen haben Markus und Sandra dieses Buch gemacht? Es ist vor allem eine Hommage an die vielen freiwilligen Helfenden. Um noch einmal aus dem Buch zu zitieren:
„Für all die Menschen, die in ihrem Urlaub knietief im Matsch standen, ihre Überstunden mit dem Ausschippen von Kellern verbracht haben, ihren Job gekündigt haben, um fremden Menschen Hoffnung und Hilfe zu geben, ihr Leben ins Ahrtal verlagert haben, um den Betroffenen, die mit ihren Existenzen auch die greifbaren Beweise ihrer Vergangenheit verloren haben, wenigstens eine Zukunft zu geben.“
Oder, wie es Sven Kerzel auf der Facebook-Seite von Markus Wipperfürth kommentiert:
„Genau dies ist der Punkt, warum wir, meine Frau und ich, so dankbar dafür sind das es nicht einfach vergessen wird! Es ist nur 1 von sehr vielen Geschichten die das Ahrtal erleben musste… Ich selbst bin der Meinung, man muss als Betroffener und auch als Helfer einen Weg finden damit umzugehen… Und Markus sein Buch ist genau das richtige Hilfsmittel um die Erlebnisse aus der Verdrängung zurück zu holen und sich damit zu beschäftigen!“
Es gibt auch Kritik an Markus Wipperfürth
Markus Wipperfürth schlägt übrigens, das gehört mit zur Geschichte seines Einsatzes, auch Kritik entgegen. Das verschweigen wir von ohfamoos nicht. Als ich Sandra darauf anspreche, kann ich fast spüren, wie sie am anderen Ende der Telefonleitung hoch geht… „Das ist so unfassbar absurd“, sagt sie, „das macht mich so wütend.“ Erst wurde so viel Schlamm zusammen geschippt, jetzt würden Einzelne missgünstig mit Schlamm werfen, so ihre Meinung.
Was die Kraft des Buches betrifft, schließe ich mich gern der Meinung des Journalisten der Rhein-Zeitung, Lars Hennemann, an. Genau so wirkt es auch auf mich:
„Das Buch ist die konzentrierte, zwischen zwei Buchdeckeln gepresste Kraft vieler Menschen, die bis heute so viel mehr beim Wiederaufbau des Tals bewirkt hat als manche staatliche Stelle mit hochtrabenden Versprechungen und abstrakten Konzepten, die nur sehr langsam greifen und griffen.“
Wer eine Leseprobe wünscht oder das Buch vorbestellen möchte.
Aber Achtung, es ist keine leichte Kost. Viele Szenen, die beschrieben sind, gehen wirklich unter die Haut…
Text & Fotos: Elke Tonscheidt