Ukrainerin in Frankfurt: „Ich danke Deutschland für das Vertrauen“
Den 24. Februar 2022 werden viele Menschen weltweit nicht vergessen. Iryna, unsere heutige Gastautorin, mit Sicherheit nie. Mit Kriegsbeginn in der Ukraine wurde ihr Leben komplett auf den Kopf gestellt. Seit Frühjahr 2022 lebt die Ukrainerin in Frankfurt – zusammen mit ihrer mittlerweile 16jährigen Tochter Alisa, die hier auf ohfamoos bereits zu Wort kam. Irynas ältester Sohn ist Soldat, befindet sich weiterhin, wie so viele andere Familienmitglieder auch, in der Heimat. Was fühlt die Ukrainerin in Frankfurt, wie hat sie sich integriert? Wie kann Iryna das neue Leben tragen?
Wir von ohfamoos bringen diesen Beitrag voller Anerkennung – was Frauen wie Iryna oder Alisa schaffen, ist sensationell. Denn das Dorf, in dem sie vor dem Krieg lebten, wurde von den russischen Aggressoren zu 95 Prozent bombardiert.
Unter Beschuss und Bombardierung beschloss Iryna kurz nach Kriegsbeginn, vorübergehend nach Frankfurt am Main zu einem Freund zu ziehen.
Im Glauben, es würde nur ein bis zwei Monate dauern… Nachdem sie die so andere Realität akzeptiert hatte, mussten sich Mutter und Tochter an ein komplett neues Leben gewöhnen.
Und stellen sich jeden Tag die Frage: „Warum bin ich hier, warum bin ich in diesem Land?“ Irynas Antworten darauf lest bitte weiter unten.
Noch ein Hinweis von uns vorab: Iryna hat sofort nach Ankunft in Frankfurt ehrenamtlich gearbeitet, sieben Monate lang – und ihr Fleiß, Mut und Können sollten sich im Herbst dieses Jahres sogar in einer 1. Arbeitsstelle niederschlagen. Auch darüber lest Ihr mehr in diesem Beitrag. Wir empfehlen zudem, sich Irynas Lebenlauf zu Gemüte zu führen.
Und nun Irynas Gastbeitrag!
Immer wieder der Wind der Veränderung… die Luft neuer Gipfel. Und ich inhaliere sie in vollen Zügen!
Ich hätte nie gedacht, dass ich unter so schlimmen Umständen in Deutschland landen würde. Aber der 24. Februar 2022 hat das Leben von Millionen Ukrainer*innen verändert. Und nicht „nur“ deren – das Leben vieler Menschen in vielen Ländern ist ein anderes.
7 Monate ehrenamtlich gearbeitet
Die ersten Monate, als ich nach Frankfurt kam, waren ein echter Schock und ein Mangel an Realitätssinn. Und ich bin dem Universum und dem schönen Mädchen Olena (einer Bekannten) dankbar, die mich und meine Tochter damals nicht nur beherbergte, sondern mich auch in die Ukrainische Koordinierungsstelle in Frankfurt brachte. Ich habe hier ab dem zweiten Tag der Eröffnung des Zentrums fast 7 Monate lang ehrenamtlich gearbeitet.
Ich bin dem Zentrum und jeder Person, mit der ich in dieser Zeit zusammengearbeitet habe, sehr dankbar.
Dankbar dafür, dass wir alle zusammen vielen Menschen aus der Ukraine haben helfen können.
Und dankbar dafür, dass das Zentrum auch uns geholfen hat, mit der Hilflosigkeit fertig zu werden, die wir empfanden, als wir in ein anderes Land kamen. Ich bin dankbar, dass ich mit Hilfe des Zentrums viele Ukrainerinnen kennengelernt habe – solche, die gerade in Frankfurt ankamen als auch die, die schon lange hier leben. Danke an Viktoria Radzievska für dieses Zentrum und diese außerordentliche Hilfe.
Leider kann ich die Umstände nicht allein ändern, die mich gezwungen haben, in Deutschland zu leben.
Aber jeden Tag stellte ich mir die Frage: warum bin ich hier, warum bin ich in diesem Land?
Und jedes Mal fand und finde ich neue und neue Antworten:
- Das Leben in einem anderen Land von innen sehen.
- Um mein eigenes Stereotyp zu brechen, wer „die Deutschen“ sind.
- Weil ich eine unglaublich „neue Familie“ gefunden habe, meine deutsche Familie. Aufrichtige, offene Menschen mit viel Humor: mein neuer Bruder Oliver und meine Schwester Sabina.
- Ich lerne nicht zu rennen, sondern ausgeglichen zu leben; ich lerne zu warten. Denn in Deutschland herrscht ein ganz anderes Lebenstempo, eine ganz andere Einstellung zur Gegenwart.
- Meine Tochter und ich lernen, „Schritt für Schritt“ zu gehen. Das heißt, nicht zu versuchen alles sofort und schon „gestern“ zu lösen.
- Wir haben begonnen wieder viel zu laufen und das Auto, mit dem wir nach Deutschland kamen, fast zu vergessen. Weil ein Auto hier in Frankfurt einfach nicht rentabel ist und es Spaß macht zu laufen.
- Ich lerne, wie man mit Papierstapeln umgeht (das hasse ich). Denn in Deutschland, einem Land, das unglaubliche Autos baut, ist der Dokumentenfluss immer noch hauptsächlich papierbasiert.
- Ich habe die Möglichkeit erhalten, die deutsche Sprache zu lernen und zu lieben. Und Deutschland zahlt für diese Gelegenheit. Und ich finde es ganz erstaunlich, wie sich der Staat und viele Bürger um seine/ihre Muttersprache kümmern.
- Und immer wieder fühle ich diese Dankbarkeit. Denn dieses Land gibt alles, damit wir uns hier nicht nur sicher, sondern auch rundum beschützt fühlen.
Der 1. Job in einer Frankfurter Kita
Und im November 2022 habe ich eine weitere Antwort erhalten. Und gemerkt:
☀️☀️☀️Auch das Unmögliche ist in diesem Leben möglich!!!!☀️☀️☀️
Ich erhielt einen Job. Eine Arbeit an einer öffentlichen Einrichtung, einer KITA in Frankfurt.
Ich danke Deutschland für das Vertrauen und die Chance. Aber ich kann auch mit Stolz sagen, dass sie von meiner Ausbildung und Erfahrung, meinen Fähigkeiten und dem Wunsch vieler Ukrainer*innen nach neuem Wissen beeindruckt waren.
Die Ukraine ist meine Heimat – sie ist meine Seele, ich liebe die Ukraine von ganzem Herzen!!!
Und ich werde sie weiter nicht „nur“ mit Würde präsentieren, sondern auch neue Erfahrungen sammeln, um nach unserem Sieg alles Fortschrittlichere und Beste in meinem Land umzusetzen.
Iryna, in Odesa geboren, absolvierte dort die Schule und die Universität. Sie arbeitete als Zytogenetikerin. 2000 zog sie nach Kiew, wo sie vor dem Krieg lebte. Im Jahr 2003 gründete sie ihr eigenes Großhandelsunternehmen für Schreibwaren und leitete es 16 Jahre lang. Das Unternehmen hat 73 Beschäftigte. Im Jahr 2008 begann sie, sich für orientalische Tänze zu interessieren und sich in diese Richtung zu entwickeln. Seit 2019 entwickelt sie aktiv Bereiche der kreativen Arbeit mit Kindern in der Region Kiew (Rhythmik, Choreografie, Handarbeit, Kinderferien). Außerdem arbeitet sie seit 2019 ehrenamtlich als Hausmeisterin in einem Gebäude mit 300 Wohnungen.
Iryna ist Mutter von zwei Kindern. Der älteste Sohn ist Soldat und befindet sich derzeit in der Ukraine.
Mein großer Respekt für diesen gegangenen Weg!
Vielen Dank 💙💛
Ich bin Deutschland und allen deutschen Bürgern dankbar für ihre Unterstützung, für ihre Hilfe, für ihre unglaubliche Herzlichkeit.
Ich sage ganz ehrlich und offen, dass die Deutschen eine unglaubliche Nation sind, wunderbar люди❤️.
Und die Ukraine – meine geliebte Ukraine – ist ein starkes, ungebrochenes Land 🇺🇦.
Und wir werden definitiv dieses Übel besiegen, das in unser Land gekommen ist 💙💛.