Kreativstipendium – oder: wo Projekte fern der Heimat gelingen
Gemeinsam mit ihrem Partner Oliver ist Sabine Tonscheidt, Elkes Schwester, Ende Februar an einen wunderbaren Fleck Erde gekommen. Nach Castellabate, einem Ort in der süditalienischen Gegend Cilento. Was erlebt sie dort? Und was macht man, wenn man ein Kreativstipendium bekommt?
Eselkot stinkt nicht. Jedenfalls nicht, wenn er im überdachten Stall liegt. Erst die Sonne, so erklärt uns Costabile, erweckt die Bakterien zum Leben. Dann wird der Kot zersetzt, es entstehen Dämpfe und dieser typisch beißende Geruch kommt einem bereits morgens bei der Anfahrt zum Landgut entgegen. Hier, auf A‘ Crapa mangia, wo Costabile seit 20 Jahren seine Arbeit als „Allround-Hausmeister“ tut, haben drei Esel ihr Zuhause: Marou, Lucy und Rocco.
Und jetzt auch wir, zumindest zeitweise. Denn das Landgut A‘ Crapa mangia in Castellabate hatte eine ganz ohfamoose Idee: Im Juni 2022 schrieb es erstmals ein so genanntes Kreativstipendium aus. „Wir wollten“, so erklärt es Lucia Luzzolini, „Menschen einen Ort der Ruhe und Zurückgezogenheit bieten, um ein Projekt fertig zu stellen, das ansonsten im Alltag untergeht. Dinge also, für die man sonst nie Zeit findet, die aber gleichsam wichtig sind.“ Daher wurde für den Zeitraum zwischen Januar und März 2023 ein einmonatiges Schreib- oder Kreativstipendium auf dem Landgut annonciert.
„Ob wissenschaftliche Publikation, Romankapitel, Bildband, Investigativrecherche oder was ganz anderes – wir freuen uns über spannende Themen und darauf, innovativen Geistern einen Ort zu anzubieten, an dem sie mit ihrem Projekt weiterkommen können“, hieß es auf der Website von A‘ Crapa Mangia.
Castellabate
Castellabate, das seinen Namen vom „castello dell’abate“, also der Burg des Abts bekam, deren Bau 1123 startete, ist ein ganz besonders schöner Ort. Nicht umsonst zählt es zu den „borghi più belli d’Italia“: Dieses Label verleiht eine private Vereinigung an kleine, meist mittelalterliche Dörfer oder einzelne Stadtteile Italiens, die von herausragendem historischen und künstlerischen Interesse erscheinen.
2016 war es auch für die Auszeichnung Castellabates so weit – und das Dorf machte den zweiten Platz in ganz Italien.
Ansonsten hat das Cilento unter anderem mit rund 100km Küstenstreifen, verschiedensten Olivenprodukten, dem weltweit beliebten Büffelmozzarella sowie 200 meist mittelalterlichen Dörfern aufzuwarten. Castellabate ist eines davon, liegt hoch über dem Golf von Salerno, dem südlichen Teil des Thyrennischen Meers, und seine Häuser mitsamt Torbögen und kleinen Plätze schmiegen sich förmlich an einen der unzähligen Felshügel.
Castellabate wird nun für ganze vier Wochen von Ende Februar bis Ende März unser Domizil. Rund 1500 km von Frankfurt entfernt, wo unser eigentliches Zuhause liegt. Jetzt aber tauschen wir für einen Monat Bankentürme, Äppler und Main gegen Meeresblick, Oliven und Esel-Freunde auf A‘ Crapa mangia ein.
Eselkot stinkt nicht
Diese drei Esel, darüber hinaus zwei Ziegen und neun Hühner haben wir seit ein paar Tagen in unsere Obhut genommen. Der tägliche Pflegedienst erstreckt sich auf zwei Taten am Tag: zu Tagesbeginn die Tiere aus ihren Ställen lassen und sie vor Einbruch der Dunkelheit dorthin zurückführen – damit Hunde oder Füchse ihnen des nachts nichts anhaben können. Mit einer Kelle Trockenfutter geht der Gang in den Stall um einiges leichter. Dann gelingt das Ganze auch zwei Städtern wie uns. Eselpflege gehört nämlich nicht zu unseren sonst üblichen Tagesaktivitäten.
A‘ Crapa Mangia
Lucia lacht, während sie den Ausdruck als Satz aus dem cilentanischen Dialekt dechiffriert – und zwar in fließendem Deutsch: „A‘ Crapa Mangia bedeutet so viel wie ‚die Ziege frisst‘. Hat die Ziege genug zu fressen, geht’s auch dem Ziegenhalter gut. Für uns ist die fressende Ziege also das Leitbild für das sich hoffentlich rundum Wohlfühlen bei uns im Cilento.“
Lucia, Tochter einer Cilentanerin und eines Calabresen, wuchs die ersten 19 Jahre ihres Lebens in der Nähe von Ulm auf. Daher ihr perfektes Deutsch, ihre erste Muttersprache. Im Jahr 1992 wollte sie zunächst nur für ein Praktikum in der Hotellerie des Cilentos die Heimat ihrer Eltern erkunden. Sie blieb – und managt seit November 2013 als gute Seele von A‘ Crapa Mangia das Landgut, das bereits im 17. Jahrhundert von einer Adelsfamilie erbaut und ab 1998 zu Ferienappartements umgebaut wurde.
Kreativstipendium im Cilento
Nun ist es erstmals in 2023 Domizil für kreative Geister: Aus rund 50 Bewerbungen kommen in den Anfangsmonaten des Jahres nicht nur ein, sondern gleich vier „Stipendiaten“ auf dem Landgut zusammen, „denn wir waren überwältigt von den vielen Einsendungen und Ideen“, sagt Lucia. Hoch über dem Meer arbeitet nunmehr der Berliner Schriftsteller Thilo Bock – inspiriert von der nur knapp 30km entfernt gelegenen griechischen Ausgrabungsstätte Paestum – an seinem nächsten Roman.
Eine Diätassistentin möchte Kindern und ihren Eltern gesundes Essen auf eine entspannte und kindgerechte Art schmackhaft machen; zwei Journalisten aus Berlin arbeiten zu den Rechten von Natur und indigenen Völkern in Zeiten des Klimawandels (dazu mehr hier).
Zukunftskompass
Und eben mein Partner Oliver und ich, die wir den „Zukunftskompass“ als Bewerbung eingereicht haben. Der Arbeitstitel für ein Instrument, das die wesentlichen globalen Veränderungen, damit einhergehenden Risiken aber vor allem auch Chancen für die Gesellschaft auf kurz- bis langfristige Sicht beschreiben möchte.
Und das auf möglichst verständliche Weise. „Gerade in Zeiten großer Ungewissheit, wie sie sich jetzt durch den Krieg in Europa, die dadurch ausgelöste Energie- und Ernährungskrise, aber auch die Vielzahl an anderen Konfliktherden weltweit für uns Menschen zeigt, steigt das Bedürfnis nach Orientierung und Navigationshilfen“, so Oliver zum Ausgangspunkt des „Zukunftskompass“. Dabei leiten ihn Szenarien-Entwicklung und Methoden der strategischen Vorausschau, die auch sonst seine Arbeit im von ihm gegründeten Bureau für Zeitgeschehen bestimmen. Noch ist es eine Ideenskizze mit vielen Anknüpfungspunkten, die hier auf A‘ Crapa Mangia zu einem Konzept gedeihen sollen. Einmal jährlich, so die Hoffnung, soll der Kompass künftig als Magazin einer großen Tages- oder Wochenzeitung beigelegt werden, „damit Menschen verstehen:
Zukunft ist nicht, was uns aufgebürdet wird. Sondern wir können und müssen sie tagtäglich aufs Neue gestalten.“
Marou, Lucy und Rocco, die drei Esel, die uns schon nach ein paar Tagen ans Herz gewachsen sind, wissen nichts über die komplexe Lage auf der Welt. Ihre Zukunft findet auf begrenztem Raum statt. Jeden Morgen wiehern sie uns aus ihrem Stall entgegen, wenn sie unsere Schritte auf dem Kies hören. Bekommen sie freien Lauf und ihr tägliches Heu, sind sie fürs Erste zufrieden.
Mehr Informationen zu Castellabate:
Das knapp 9000 Einwohner*innen zählende Dorf Castellabate war Kulisse für den Film „Willkommen im Süden“ (Benvenuti als Sud), der 2010 in die Kinos kam, auch in einer deutschen Fassung. In Italien ist er mit immerhin knapp 30 Millionen Zuschauern der 12.-erfolgreichste Film. Ähnlich wie das französische Pendant „Willkommen bei den Sch‘tis“ (2008 erschienen) erzählt die Komödie, was Norditalienern bei der Versetzung in den gemeinhin als rückständig betrachteten Süden Italiens so alles passieren kann.
Mattia Volpe, die Filmfigur aus „Willkommen im Süden“, der den Postangestellten aus Castellabate verkörpert, bringt es auf den Punkt: „Wenn ein Ausländer in den Süden kommt, weint er zweimal, wenn er ankommt und wenn er geht.“ (Vermutlich hat er Recht.)
Gastautorin Sabine Tonscheidt ist seit vielen Jahren in der internationalen Zusammenarbeit tätig. Sie lebt und arbeitet in Frankfurt. Aktuell befindet sie sich in einer beruflichen Auszeit, die sie zum Teil in ihrer zweiten Wahlheimat Italien verbringt.
Fotos: Sabine Tonscheidt/Oliver Gnad
Ich habe diesen Artikel sehr gerne gelesen.
Sabine und Oliver sind wunderbare und sehr gefühlvolle Menschen. Sie sind ein wahrer Schatz für jedes Land, jede Stadt oder jedes Dorf, jeden Winkel der Erde. Zusammen mit ihrer Liebe zum Leben bringen sie Gutes für Menschen, Tiere und alle um sie herum.
Grazie mille liebe Irina!!! ❤️