Raus aus der Nische: Biodiversität zum Thema machen
Wir alle hängen von der Natur ab – das wissen wir, aber handeln wir so? Ein neues Buch schlägt Alarm – nicht reißerisch, sondern sachlich und es macht sehr klar: „Biodiversität sollte uns beschäftigen wie Klimawandel, Energiekrise oder Corona-Pandemie.“ Wir haben Friederike Bauer, eine der beiden Autorinnen, gebeten uns zu verraten, um was es in „Vom Verschwinden der Arten: Der Kampf um die Zukunft der Menschheit“ konkret geht.
Die Natur ist politisch. Sie geht uns alle an. Egal, ob wir in der Stadt leben oder auf dem Land, ob wir unseren Salat selbst anpflanzen oder im Supermarkt kaufen, ob wir Spaziergänge im Park mögen oder lieber ins Kino gehen. Was bei uns wächst, grünt und blüht, was quakt, summt und zwitschert, kann uns nicht einerlei sein. Hier nicht und auch andernorts auf der Welt nicht.
Wir alle hängen von der Natur ab, ihrem Reichtum, ihren Leistungen.
Wir brauchen, Wasser, Luft, Essen und Erholung. Genau genommen sind wir ein Teil von ihr, auch wenn das durch unseren Lebensstil nicht immer gleich ersichtlich ist und wir uns schon längst nicht mehr so verhalten.
Tatsächlich aber übernutzen wir die Natur in atemberaubendem und bisher nie dagewesenen Tempo – und zwar in sehr beschleunigter Weise seit ungefähr 70 Jahren. Wissenschaftler sprechen bereits vom 6. Massenaussterben. Inzwischen ist die Hälfte aller Ökosysteme massiv verändert, eine Million Arten sind vom Aussterben bedroht. Seit kurzem gibt es auf der Erde mehr vom Menschen hergestelltes Material als Biomasse, nämlich Stoffe wie Beton, Asphalt, Metall, Plastik, Glas oder Papier. Eine Verschiebung von großer Tragweite.
Bollwerk gegen den Klimawandel
Trotzdem geht es beim Thema Nachhaltigkeit hauptsächlich um Klima und seinen Schutz. Biodiversität ist bisher kein gleichwertiger Teil dieser Debatte. Obwohl ihr Schwund unsere Existenz bedroht und obwohl der Erhalt von Wäldern, Mooren und intakten Meeren ein gutes Mittel gegen weiter steigende Erdtemperaturen darstellt. Sie binden viel klimaschädliches CO2: Nach Berechnungen des Weltklima- und des Weltbiodiversitätsrats speichern sie rund die Hälfte des vom Menschen ausgestoßenen Kohlendioxyds auf ganz natürliche Weise.
Die Natur fungiert also wie ein Bollwerk gegen den Klimawandel. Schon allein deshalb, aber nicht nur, wird es Zeit, dass wir uns mit ihr beschäftigten, dass wir den sperrigen Begriff Biodiversität in unser Vokabular und unsere Debatten einbauen. Er muss genauso zum Gesprächsthema werden wie der Klimawandel, die Energiekrise, die Corona-Pandemie, das Rentensystem oder die Ausbildung unserer Kinder.
Denn der Verlust an Biodiversität ist wahrscheinlich sogar die ernstere Krise: Der Klimawandel entscheidet darüber, WIE wir leben, wie wir mir mehr Wirbelstürmen, größerer Trockenheit, neuen Krankheiten oder weniger produktivem Land zurechtkommen.
Der Artenschwund entscheidet darüber, OB wir als Menschheit überleben.
Ohne rasche und durchgreifende Maßnahmen zu ihrem Erhalt entziehen wir uns die eigene Lebensgrundlage. Wenn Bienen nicht mehr bestäuben, wenn Böden ausgelaugt und Meere überfischt sind, dann wird es eng für uns Menschen. Das sollten wir uns rasch bewusst machen.
Nicht hilflos ausgeliefert
Aber wir können auch etwas tun. Wir sind dieser Entwicklung nicht hilflos ausgeliefert. Das zeigen verschiedene wissenschaftliche Modelle; aber dafür muss das Thema raus aus seiner Nische, aus der „Biene-Maja-Ecke“, rein ins öffentliche Bewusstsein und ins Zentrum politischen Handelns. Kurz gesagt, es muss zu einem politischen Top-Thema werden.
Genau darin liegt die Absicht des neuen Buches „Vom Verschwinden der Arten“: Mehr Bewusstsein schaffen für die – politische – Bedeutung von Biodiversität. Dafür ziehen wir Bilanz, zeigen auf, wo wir stehen, wie dramatisch der Naturverlust ist. Dabei belassen wir es jedoch nicht, sondern gehen auch den Ursachen auf den Grund, zeichnen die (internationale) Debatte nach und präsentieren Lösungen.
Dazu gehört als Fazit am Ende ein Zehn-Punkte-Plan der wichtigsten Maßnahmen, um so schnell wie möglich eine Kehrtwende zu erreichen. Zu ihnen zählen Aktivitäten auf politischer Ebene wie: 30 Prozent der Erde unter Schutz stellen; den Anteil des Ökolandbaus bis 2030 global auf 25 Prozent erhöhen, derzeit liegt er bei 1,5 Prozent; naturschädliche Subventionen zum Beispiel für die Landwirtschaft, für fossile Energien oder Dienstwagen zurückfahren.
Jede und jeder kann etwas beitragen
Aber auch jede und jeder Einzelne kann einen Beitrag leisten, unter anderem durch einen radikal geringeren Fleischkonsum von höchstens 300 Gramm pro Person und Woche, von möglichst geringer Verschwendung von Lebensmitteln und durch grüne Balkone, Gärten, Seitenstreifen, Hinterhöfe, die liebevoll, aber nicht übertrieben akkurat gepflegt werden. „Lass die Natur mal machen“, lautete unlängst die Werbung eines großen Baumarktes. Das ist ein gutes Motto für uns alle.
Ein Teil dieser Punkte findet sich auch in einem neuen ambitionierten Programm wieder, das die Staatengemeinschaft vergangenen Dezember im kanadischen Montreal verabschiedet hat. Es ist ein Programm für die nächsten Jahre mit dem Ziel, bis zur Mitte des Jahrhunderts wieder „im Einklang mit der Natur zu leben“. Damit es kein Papiertiger bleibt, muss es nun in den Einzelstaaten umgesetzt, in Gesetze und Verordnungen gegossen werden. Das wird nicht ohne weiteres geschehen; dazu braucht es auch Druck aus der Öffentlichkeit, Nachfragen von Bürger*innen und ein insgesamt stärkeres Interesse für das Thema.
Denn aus wissenschaftlicher Sicht herrscht kein Zweifel: Die Menschheit steht an einem Wendepunkt. Wir können diese existenzielle Krise einfach geschehen lassen, bis alles vorbei ist. Oder wir reißen das Ruder rum, sichern unsere Zukunft, setzen neue Prioritäten in Politik, Wirtschaft – und in letzter Konsequenz bei uns allen, indem wir der Natur wieder mehr Raum geben.
Katrin Böhning-Gaese, Friederike Bauer
Vom Verschwinden der Arten: Der Kampf um die Zukunft der Menschheit.
Klett-Cotta, April 2023
Fotos: Bert Bostelmann / Klett-Cotta Verlag
Ist die Menschheit noch zu retten? So fragte kürzlich das Kulturmagazin der ARD „titel, thesen, temperamente“ und stellte in einem Beitrag auch das neue Buch von Katrin Böhning-Gaese und Friederike Bauer vor. Den Beitrag seht Ihr hier.
Ganz wichtiges Thema!!
DAS Top Thema des nächsten Jahrzehnts! Es ist nur unheimlich schwer, es in das Bewusstsein der Menschen zu bringen, nachdem jahrelang völlig einseitig sämtliche Kommunikation auf „CO2“ und „klimaneutral“ getrimmt wurde und da auch ganz viel Greenwashing stattgefunden hat. Im Endeffekt können wir es nur schaffen, wenn wir unseren Lebensstil, wie wir Wachstum, Wohlstand und Erfolg definieren, grundlegend überdenken.