Möglichkeits(t)räume im Wendland
Unsere Gastautorin Sabine Tonscheidt war im Wendland und hat dort mit ihrem Freund „Ein Ding der Möglichkeit“ besucht. Ein ehemaliges Hofgut, das liebevoll umgestaltet nun als Tagungsort und Retreat dient. Was dich dort erwartet, hat Sabine für uns aufgeschrieben.
Woher kommen bloß all diese Mücken? Zu Hunderten scheinen sie sich zusammen getan zu haben, um uns zu zeigen, was eine richtige Landpartie ist. Mein Freund schnappt sich ein Handtuch, knautscht es zusammen und wirft es immer wieder senkrecht gen Decke. Maximal fleckenfreundlich sei das. Allerdings ist die Decke hier gut und gerne 4-5 Meter hoch. Seine Trefferquote dementsprechend. Aber wir haben ja noch Zeit bis zum Schlafengehen. Zur ländlichen Idylle fehlt eigentlich nur noch das Rufen des Nachtkauz‘.
Raus aus der Großstadt
Willkommen in Salderatzen – einem 23 Seelen-Ort im Wendland, dem östlichsten Zipfel Niedersachsens. Vor gut fünf Stunden hat uns Julia hier sehr herzlich begrüßt, auf dem Landgut „Ein Ding der Möglichkeit“ (siehe auch Kurzinterview). Julia ist eigentlich Designerin. Mit anderen hatte sie in Berlin in einer Werbeagentur gearbeitet. Irgendwann kam dann der Wunsch auf, etwas anderes zu tun.
Raus aus der Großstadt, raus aufs Land. „Ja, mutig war das“, lacht sie auf die anerkennenden Worte meines Freundes. Nicht jeder bleibt hier für längere Zeit, am dunkelsten Ort Deutschlands, wie uns Peter Tage später erklären wird, der in seinem Leben vor dem Hofgut als Bootsbauer aktiv war. Dunkel, das bezieht sich allerdings allein auf die nächtliche Dunkelheit und die damit verbundene Einsamkeit, nicht auf die politische Gesinnung der Bewohner. Salderatzen ist also ein perfekter Ort für Sternengucker.
Ein Ding der Möglichkeit
Und für Menschen, die einen besonderen Ort für ihre Veranstaltung oder ihre Tagung suchen. Das etwa ein Hektar große Areal, auf dem das Hofgut steht und in den vergangenen drei Jahren liebevoll renoviert und ausgebaut wurde, ist enorm weitläufig. Hier finden 29 Gäste Platz; wenn sie in Einzelzimmern untergebracht werden wollen, sind es immerhin 17.
Ein bestens geeigneter Ort, wenn man als Firma für eine Tagung, als Chor für seine Proben oder als Yoga-Fan für einen Retreat mal wirklich raus aufs Land, vom Trubel in der Stadt abschalten oder Teambuilding in der Abgeschiedenheit erproben möchte. Rund 90 km ist das Wendland von Hamburg entfernt, 120 km sind es bis Hannover und 220km bis Berlin.
Die Uhren scheinen hier wirklich langsamer zu gehen, die Menschen sind freundlich und zugewandt. Der Busfahrer, der uns sonntags zum Hofgut fährt, kann uns kein Ticket verkaufen: „Mein Kugelschreiber ist mir runtergefallen, ich finde ihn nicht wieder.“ Warum er einen Kuli zum Ticketausstellen braucht, hat er uns nicht verraten. Mitfahren dürfen wir trotzdem.
Der Traum vom Land
Mit Julia haben fünf weitere Freunde und Bekannte sich ihren Traum vom Land im Jahr 2021 verwirklicht: Sie gründeten eine Genossenschaft und übernahmen das Hofgut im Bezirk Waddeweitz, das für meinen Freund und mich längst den Spitznamen „Watteweich“ trägt. Auch vorher war hier ein Seminarbetrieb, aber der Vorgänger wollte nicht mehr. „Nicht für jeden ist das hier was“, weiß auch Julia. „Daher lassen wir gerade drei weiteren Interessenten, die in die Genossenschaft eintreten wollen, erstmal ein Probejahr bei uns machen.“ Erst, wenn man mal alle Jahreszeiten in Salderatzen erlebt habe, könne man mit mehr Sicherheit sagen, dass man es hier aushalte.
Julia und Niels
Auch Niels, der Lebenspartner von Julia, hat sich für das Leben auf dem Land entschieden. Ich treffe ihn am zweiten Tag, als ich gerade von meinen morgendlichen Gymnastik- & Yoga-Übungen aus einem der zwei Seminarräume runterkomme: 600 Quadratmeter Fläche, aufgeteilt auf zwei wunderschöne Räume, im Lehmputzverfahren restauriert und mit warmen Holzdielenböden ausgelegt. Das Dach wurde 2022 erst neu gedeckt, zwei große Lichtschachtkästen eingebaut. Entsprechend hell und sympathisch muten die Seminarräume im 1. Stock an. Direkt darunter, im Erdgeschoss, befindet sich auf der einen Seite die Tischlerei.
Niels, 43 Jahre, auch aus der Berliner Grafikagentur kommend, hat beim Bootsbauer Peter das Tischlern gelernt. „Heute mache ich eigentlich kaum was anderes mehr.“ So sehr begeistert ihn das Arbeiten mit Holz. „Man kann daraus etwas schaffen, das womöglich die nächsten 100 Jahre hält“, sagt er und dreht sich die zweite Morgenzigarette.
Anders, als das oftmals sehr schnelllebige Arbeiten in der Agentur, wo die Halbwertzeit der Produktentwicklungen nicht wirklich hoch ist. Aussteiger seien sie trotzdem nicht, fügt er noch an, auf die vielen Kommunen verweisend, die sich hier im Wendland nach und nach niedergelassen haben. Eher seien sie Menschen, die sich, wenn sie in Rente gehen, nicht fragen wollen: ‚Wofür haben wir eigentlich gelebt?‘ Seine Vision ist, das Tischlern auch bei den Seminaren mit zu integrieren. Gemeinsam etwas zu erschaffen, worauf man im Anschluss stolz sein kann.
Teamwork beim gemeinsamen Kochen kennt man ja schon; auch hier auf dem Hofgut ist das im Übrigen gut möglich, denn es gibt eine große Profiküche und ebenso viel Platz für gemeinsame Frühstück, Mittag- und Abendessen. Das Tischlern könnte zu ganz ähnlichen Gemeinschaftserlebnissen führen, ist sich Niels sicher.
Co-working im Ding der Möglichkeit

Binka, der Hofhund
Auf der anderen Seite des Seminargebäudes, im Erdgeschoss, befinden sich Co-Working-Plätze im Aufbau. Der Blick von hier aus geht raus aufs weite, platte Land. Viel Ruhe für konzentriertes Arbeiten. High-Speed WLAN ist entsprechend vorhanden und funktioniert einwandfrei.
Zwischendurch rufen eine Tischtennisplatte, ein Kicker, der allerdings etwas in die Jahre gekommen ist, und ein Schrank mit lauter Spielen – von Boule über Federball bis zum Wikingerspiel – zu sportlich-spielerischen Aktivitäten. Gerade, als wir uns fragen, wo denn der Hofhund bleibt, der noch zur Rundum-Idylle fehlt, kommt ein Australian Shepard namens Binka fröhlich mit dem Schwanz wedelnd um die Ecke gelaufen.
Hofgut unter Denkmalschutz
Natürlich ist hier nicht alles Friede Freude Eierkuchen. Das Renovieren kostet Geld, Kraft und Nerven, davon weiß auch Julia ein Liedchen zu singen. „Noch gehört das Hofgut zu großen Teilen der Bank“, lacht sie. Der Denkmalschutz, der auf diesen Gebäuden liegt – das älteste wurde um 1900 erbaut – erfordert viele Behördengänge und Genehmigungen. Als die Umbauten begannen, lag die Coronawelle zäh quer über Deutschland, auch über dem Wendland. „Das eine ist: Wir konnten bauen“, sagt Peter schmunzelnd. „Aber ein Maurer war anfangs weit und breit nicht aufzutreiben.“ Es brauchte einige Überzeugungsarbeit, bis sich Maurer aus dem heimischen Bremervörde dann doch darauf einließen, hier im rund 200km entfernten Salderatzen Hand anzulegen.
Das Gästehaus heißt Träumerei
An unserem Abreisetag lernen wir dann noch „Opa“ kennen – ein freundlich grüßender Herr, der uns mit Hut und Rucksack auf dem Flur des Gästehauses namens „Träumerei“ entgegen stiefelt. Eine halbe Stunde später sitzt er auch schon auf dem Rasenmäher und dreht seine Runden auf den Wiesen hinter dem Gemeinschaftshaus. Er ist Rentner, aber zu rüstig zum Faulenzen. Als wir beim Boulespielen kurz Pause machen, um mit Peter noch ein paar Worte zu wechseln, sieht Opa mit fachmännischem Blick sofort, dass es auf dem Stück Erde, das uns für das Spiel dient, noch was zu verbessern gibt. Er kommt mit einem Stück Teppich – an einer Leine und einem Stück Brett befestigt – wieder. Damit glättet er den Boden wie auf einem Tenniscourt, die herunter gefallenen Kastanien und Laub dürfen weichen. „Ich bring Euch dann später noch den Pastis“, frotzelt er, an den französischen Ursprung des Boule-Spiels erinnernd.
Frau Süßmilch im Bioladen
Ein Pastis wird es dann zwar nicht mehr, aber bevor wir in den Bus nach Uelzen steigen, spazieren wir noch zu Frau Süßmilch (echt wahr, die Inhaberin hört auf diesen besonders schönen Namen!). Eine Viertelstunde Fußweg vom „Ein Ding der Möglichkeit“ entfernt hat sich ein erstaunlich gut sortierter Bioladen etabliert, der auch Kaffee zum selbst gebackenen Kuchen ausschenkt. Derart gestärkt geht es dann die rund vier Bus- bzw. Zugstunden zurück nach Frankfurt, zurück in die Großstadt…
Kurzinterview mit Julia
Was steckt eigentlich genau hinter dem Namen „Ein Ding der Möglichkeit“?
Wir sehen den Hof mit allem, was dazu gehört, als eine Art Plattform für Menschen, die Ideen haben und mit uns gestalten wollen. Vielen von uns kommen aus dem kreativen Umfeld, dementsprechend kann das etwas Künstlerisches oder ein Workshop oder ein Event sein. Wir sind alle hier angetreten, um Neues auszuprobieren und unser Leben umwelt-positiver zu gestalten. Wir sind sehr dankbar, wenn es Menschen gibt, die diese Vision mit uns teilen.
Wie funktioniert Eure Genossenschaft – und welche Tücken gibt es?
Wie jede Genossenschaft haben wir eine Satzung, die unser Grundkonstrukt darstellt. Ansonsten sind wir in Arbeitsgruppen mit je zwei Personen organisiert, die selbstständig für ihren Bereich Entscheidungen treffen können. Die Arbeitsgruppen, die eng miteinander verknüpft sind wie z.B. „Hospitality“ und „Gastro“, sprechen sich wöchentlich miteinander ab. Größere finanzielle oder personelle Entscheidungen treffen wir gemeinsam. Tücken gibt es viele, aber ich vergleiche es immer mit der kleinsten Gemeinschaft bestehend aus zwei Menschen: Wir haben alle eine Vergangenheit, haben unterschiedliche Gewohnheiten und Verhaltensmuster und sollten bereit sein, Kompromisse zu finden, um gemeinsam etwas auf die Beine zu stellen.
Was ist Euer Ziel für die nächsten drei Jahre?
Wir haben die Genossenschaft mit dem Ziel gegründet, einen Ort zu gestalten, an dem innovative Wohn- und Arbeitsformen entstehen und getestet werden. In den kommenden Monaten werden wir versuchen, den Bau komplett abzuschließen, um uns weiteren Ideen zu widmen, z.B. Tinyhouses. Parallel entwickeln wir unsere ersten eigenen Workshop-Formate – die ersten schon Erprobten kann man hier einsehen: www.eindingdermoeglichkeit.com/workshops
Spannend zu sehen ist außerdem, dass immer mehr Unternehmen und Organisationen hier herkommen, die selber an innovativen Projektideen arbeiten. Das würden wir gerne ausbauen und uns mehr auf Seminargruppen und Künstler*innen-Residenzen fokussieren. Zudem sollte unser gastronomisches Angebot von regionaler, vegan/vegetarischer Küche in Kooperation mit der solidarischen Landwirtschaft besser an unsere Gäste kommuniziert werden. Längerfristige Themen sind ein innovatives und faires Gehaltmodell, mehr Energie-Autarkie für den Hof und immer wieder unsere Vision zu überprüfen und anzupassen – das klingt banal, ist es aber keineswegs. Die Liste könnte lang werden, also lass uns noch mal in drei Jahren sprechen…
Fotos: Sabine Tonscheidt
Kommentare
Möglichkeits(t)räume im Wendland — Keine Kommentare
HTML tags allowed in your comment: <a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <s> <strike> <strong>