Wie entstehen Nachrichten?
60 Jahre gibt es den „Weltspiegel“ schon. Anlass der ARD, ein interaktives Format mit Zuschauer*innen aus vielen Ecken Deutschlands einmal auszuprobieren. Gezeigt werden sollte, wie Nachrichten eigentlich entstehen. Wie kommt das, was wir sonntags auf unseren TV-Bildschirmen sehen, eigentlich in die Sendung? Welche Arbeit und auch welche Menschen stehen dahinter? Mit großem Erfolg: Viele der Teilnehmer*innen lobten nicht nur dieses „Mitmischen!“-Format, sondern ganz allgemein den Weltspiegel, der allwöchentlich ein Stück Ausland in die deutschen Wohnzimmer bringt. Gastautorin Sabine Tonscheidt war für uns dabei.
Journalismus sei für ihn wie Therapie. Das Schreiben helfe, die vielen trostlosen Ereignisse und menschlichen Schicksale zu verarbeiten. Gemeinsam mit einem „unglaublich tollen Team“, das im Studio Kiew zusammenarbeite, käme man meist gut über die Runden. So sagt es Vassili Golod, ARD-Korrespondent in der ukrainischen Hauptstadt Kiew, dessen Bewohnerinnen und Bewohner – wie Menschen im ganzen Land – seit dem 24. Februar 2022 unter dem russischen Angriffskrieg leiden.
Mitmischen
Golod, der als Sohn einer russischen Mutter im ostukrainischen Charkiw geboren und dann in Bad Pyrmont aufgewachsen ist, war einer von 15 ARD-Korrespondenten, die am 1. Dezember zu einem rund zweistündigen virtuellen „Ausflug“ in die Fernseh- und Hörfunkstudios geladen hatte. Dieser Ausflug war wiederum Teil eines knapp fünfstündigen Online-Formats, das das ARD-Team des „Weltspiegels“ ins Leben gerufen hatte. „Mitmischen! Beim Weltspiegel“ nannte sich das. Über verschiedene Kanäle hatte das Erste Deutsche Fernsehen, wie die ARD ja auch noch heißt, zu dieser Premiere eingeladen. Rund 440 Menschen waren der Einladung gefolgt. So saßen sie von 10 bis 15 Uhr vor ihren Bildschirmen. Ich war eine von ihnen.
Nicht nur einmal war im Chat zu lesen: „Ich habe den Weltspiegel schon mit meinen Eltern sonntags geschaut und danke Euch sehr für die tolle Berichterstattung.“ Auch mir als Mensch mit journalistischem Background gefiel, wie die Redakteurinnen und Moderatorinnen des Weltspiegels sehr real, anfassbar und lebendig wurden. Abwechselnd führten sie im Plenum durch das Online-Programm. Sie machten das so sympathisch und souverän, dass einige der Feedbacks fast einer Verlobungs-Anfrage gleichkamen.
Ute Brucker etwa, die drei Tage drauf den Weltspiegel als Moderatorin in der Vorbereitung hatte, erklärte sehr eindrücklich, wie sich die Redaktion angesichts des Kriegs im Nahen Osten dazu entschlossen hätten, die Sendung trotz der Weltklimakonferenz (COP 28), die just an jenem Wochenende begann, nicht als rein monothematische Sendung zu gestalten. Zwar würden Klima-Themen die Sendung dominieren, aber man könne aufgrund der aktuellen weltpolitischen Lage eben nicht an anderen Themen vorbeischauen.
Weltspiegel Interaktiv
Sie führte zudem sehr gekonnt mit ihrem Handy durch die Weltspiegel-Redaktion, brachte uns daheim an den PC’s also ein Stück Redaktionsalltag näher. Sprach mit der Redaktionsassistentin, die den kompletten Sendungs-Verlauf in der Vorbereitung hatte, ebenso wie mit der Praktikantin, die sich um die Instagram-Beiträge kümmerte und hier beim Schneiden der Beiträge auch selbst Hand anlegt.
Beiträge bestellen und schneiden? Nicht jedem der rund 400 Zuschauenden war das journalistische Vokabular vertraut. Kein Manko, aber durchaus eine Herausforderung bei einer so heterogenen Zuschauer-Gruppe. Ab und an stolperten Mann und Frau daheim am Bildschirm durchaus über Fremdwörter und Abkürzungen wie Stringer, SNG oder die MAZ. Die Weltspiegel-Redakteurinnen – zufällig übrigens an diesem Tag alles Frauen – ordneten die Fachbegriffe aber immer wieder geduldig und ohne Arroganz ein. Gewiss haben auch sie einiges aus diesem ersten Zuschauer-Event mitgenommen.
So auch Vassili Golod in Kiew. Auch er nahm uns anfänglich mit zu einem kurzen Handy-Rundgang durch das ARD-Studio, das erst im Oktober dieses Jahres eröffnet worden war. So konnten wir, die wir als rund 30 Teilnehmer*innen virtuell mit in die Ukraine gereist waren, hautnah erleben, was es heißt, aus einem Kriegsgebiet Fernsehen zu gestalten. Nicht nur einmal war Golod anzumerken, dass er sich über die Fragen von – wie er es selbst nannte – „gut vorinformierten Zuschauern“ freute. Dabei ging es sowohl um Fragestellungen rund um den Krieg – etwa, wie es mit der Rekrutierung und Motivation von Soldat*innen in der Ukraine aktuell laufe oder was von der russischen Propaganda-Maschinerie zu halten wäre und ob es denn gelingen könne, sie zu durchbrechen, damit die russische Zivilgesellschaft die Wahrheit über den Krieg erführe.
Nachrichten – das Handwerk
Und es ging andererseits um „handwerkliche“ Fragen, die sich mit dem beruflichen Alltag des ARD-Korrespondenten und seiner ganz persönlichen Geschichte beschäftigten. Meine Frage, ob es eigentlich schwieriger geworden wäre, nach dem nunmehr knapp zwei Jahre andauernden Krieg noch Themen aus der Ukraine ins deutsche Fernsehen und damit in die Köpfe und Herzen der Zuschauer zu kriegen, beantwortete er mit der Aussage:
Ich sehe durchaus mehr Kriegsmüdigkeit in den deutschen Redaktionen als in der deutschen Bevölkerung.“
Wann immer er mit Deutschen im Austausch sei, wäre das Interesse an und das Mitgefühl für die Menschen und ihre Erlebnisse in der Ukraine überragend groß. Aber natürlich ist TV auch ein Business: Gerade seit Ausbruch des Kriegs im Nahen Osten erleben wir es ja Tag für Tag mit, wie der Fokus der Berichterstattung sich verschiebt – ohne gleichsam der Ukraine komplett den Rücken zuzuwenden. Aber es ist einfach Fakt: Wenn für ein abendliches TV-Format wie die „Tagesschau“ nur 15 Minuten Sendezeit bleiben und man darein alles packen muss, was an diesem Tag wichtig ist, kann man sich die hitzigen Diskussionen und schwierigen Entscheidungen in den Redaktionen lebendig vorstellen.
Geglückte Premiere
Mein persönliches Fazit dieser Veranstaltung: Es war eine geglückte Premiere. Vielen Menschen, die mit der Entstehung von TV-Sendungen wie dem Weltspiegel oder der Tagesschau sonst nichts am Hut haben, wurde auf sehr sympathische Art und Weise gezeigt, wie es hinter den Kulissen zugeht und auch, wie anstrengend es zuweilen beim Nachrichten-Machen zugeht.
Es waren kurzweilige und daher auch gut investierte Stunden. Allein: Wenn man sich fragt, wer an einem normalen Freitag von 10 bis 15 Uhr eigentlich Zeit für ein solches Online-Format hat, gibt es für die Macher*innen dieses Formats, sofern sie es wiederholen wollen, sicher noch ein paar Dinge zu überdenken.
Gefreut haben nicht nur ich, sondern auch die Weltspiegel-Redakteurinnen sich beispielsweise, als eine Teilnehmerin sich mit ihrer Frage und dafür mit Ton und Bild dazu schaltete und sich als Lehrerin entpuppte, die gleich zwei ganze Schulklassen für dieses Experiment mit vor die Bildschirme gebracht hatte.
Denn in Zeiten zunehmender Fake News kann man gar nicht genug unternehmen, um vor allem auch jungen Menschen Ausschnitte des Qualitätsjournalismus nahezubringen.“
Gerne dann auch zu anderen Zeiten, damit solche Experimente erst gar nicht in ihrer „Blase“ verbleiben.
Erklärung der Begriffe: Stringer, SNG und die MAZ
MAZ ab! hieß eine Fernsehsendung, die in den 90er Jahren von Harald Schmidt moderiert wurde. Zwei Teams rätselten da zu Ausschnitten aus bekannten TV-Sendungen. MAZ steht für Magnetaufzeichnung, also eine Aufzeichnungstechnik.
Stringer sind Journalisten, Video-Redakteurinnen oder auch Fotografinnen, die als freie Mitarbeiter*innen für deutsche TV-Sender im Ausland arbeiten. Über sie entstehen zumeist wichtige Kontakte in die Welt vor Ort, denn sie sprechen die Landessprache, sind vernetzt und verstehen die kulturellen Eigenheiten. Im Team mit deutschen Korrespondent*innen sind sie ein unverzichtbarer Teil der Auslandsberichterstattung.
SNG steht für Satellite News Gathering. Gemeint ist damit eine Übertragung aus einem technisch entsprechend ausgerüsteten Fahrzeug – auch als Ü-Wagen bekannt. Journalist*innen können damit Nachrichten produzieren und Beiträge an die Zentrale von beinahe jedem Ort übermitteln. Häufig werden solche Ü-Wagen auch für Live-Berichterstattungen, etwa beim Fußball oder bei Wahlen genutzt.
Außerdem interessant:
Der Podcast „Machiavelli“, den Vassili Golod mit anderen zum Thema Rap trifft Politik macht, ist ebenfalls interessant. Hier die Ausgabe mit Olaf Scholz
Und Vassili Golod empfahl noch ein Buch über die Entstehung des Kriegs gegen die Ukraine: The Russo-Ukrainian War. The Return of History. Von Serhii Plokhy.
Und hier noch ein Link zu unserem Artikel: Fake News erkennen!
Text und Fotos: Sabine Tonscheidt
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