Paestum – Antike trifft Moderne
Pompeij, die von der Asche des Vesuvs verschüttete Stadt am Golf von Neapel, kennt fast jeder. Aber was ist mit Paestum und Velia? Gastautorin Sabine Tonscheidt auf einer Entdeckungstour in der süditalienischen Provinz Kampanien.
Ich weiß noch genau, wie er zum ersten Mal auftauchte. Vor neun Jahren war das. Nach etlichen Kilometern auf der Via Litoranea, der Küstenstraße Kampaniens, entlang von Pinienwäldern und mit Plastik überdachten Treibhäusern stand er da, erhaben und mächtig, vom Sonnenlicht beschienen: il tempio di Nettuno, der Neptun-Tempel. Eben noch hatten wir Mozzarella aus Büffelmilch gekauft und Joghurt aus ebendieser Milch aus kleinen Gläschen gelöffelt, plötzlich riss uns dieser Anblick von der Konsumwelt in eine völlig andere Zeit: die Welt der Antike.
Auf unserem Weg zum Ferienziel Castellabate waren wir in Paestum angelangt, eine Ausgrabungsstätte 100 km südlich von Neapel. Wir staunten nicht schlecht, hatten wir uns ehrlicherweise zuvor zu den historischen Sehenswürdigkeiten dieser Region nur ansatzweise erkundigt. Der Anblick dieses fast vollständig erhaltenen Tempels aber weckte unsere Neugier.
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Das antike Paestum
Paestum hat eine erlebnisreiche Geschichte. Die Stadt wird auch „Kolonie der Kolonie“ genannt. Denn zuerst kamen die Griechen und eigneten sich das Land an. Es entstand die antike Stadt Poseidonia. Das geschah 600 vor Christus. 200 Jahre später kamen die Lukaner, ein italisches Volk, das im 5. Jahrhundert vor Christus in einem Gebiet lebte, das in etwa der heutigen Region Basilikata entspricht. Sie eroberten die Stadt und tauften sie um in Paistos. Schließlich wurde die Stadt in den Jahren 274–273 v. Chr. im Zuge der Eroberung Kampaniens durch die Römer unter dem Namen Paestum zur latinischen Colonia, eine der vielen geplant angelegten Siedlungen, die von den Römern auch als militärische Vorposten zu Kontrollzwecken genutzt wurden.
Um 500 n. Chr. fing das Gelände dann an zu versanden und langsam zu versumpfen, denn diese höchst fruchtbare Ebene liegt nur rund zwei Kilometer vom Tyrrhenischen Meer entfernt im Golf von Salerno, etwa auf dem gleichen Breitengrad wie die Insel Sardinien. Malaria breitete sich in den Ebenen von Paestum aus, und die letzten von etwa 15-20.000 Bewohner, die Paestum zu dieser Zeit gezählt haben soll, verließen den Ort. Die Tempelanlage verwandelte sich in eine Art Urwald, der Ort wurde gleichsam vergessen.
Paestum heute
Erst viele Jahrhunderte später wurde Paestum wiederentdeckt und allmählich geschützt und restauriert. Heute ist es eine vom UNESCO-Weltkulturerbe anerkannte Ruinenstätte. Paestum ist zugleich Teil eines archäologischen Freiluft-Parks, der auch die etwa 45km entfernt gelegene griechische Ausgrabungsstätte Velia, auch Elea genannt, umfasst. In der Hauptferienzeit verbindet ein Shuttlebus die beiden Stätten. Tickets für Erwachsene kosten 15 Euro und sind drei Tage lang gültig; so kann man beide Teile des Parks besuchen. Ein Schnäppchen, wie wir fanden, als wir nun ein weiteres Mal beide Parks besuchten, die unterschiedlicher kaum sein können.
In Paestum bestaunen wir gleich drei sehr gut erhaltene Tempel. Mit uns unterwegs sind in diesen frühen Märztagen eigentlich nur noch ein paar italienische Schulklassen. Man meint, das weitläufige Gebiet ganz für sich zu haben. Die Lehrer haben es nicht leicht, das Interesse der pubertierenden Jugend zu wecken. Aber Geschichtsunterricht unter freiem, noch dazu blauem Himmel ist allemal besser als in gewöhnlichen Klassenräumen.
Der Neptun-Tempel
Besagter Neptun-Tempel ist der größte und besterhaltene von Paestum, er umfasst eine Reihe von 14 längs und sechs quer angelegten Säulen. Sie sind stämmig und wirken doch verhältnismäßig leicht, was vermutlich der Verjüngung nach oben geschuldet ist: 2,09 Meter Durchmesser haben die Säulen am Boden, oben sind es nur noch 1,55 Meter. Anfangs wurden die Säulen aus Holz und Lehmziegeln gebaut und bunt angemalt, später verwendete man Stein.
Der Tempel gilt als Zeugnis dorischer Baukunst und inspirierte viele Baumeister und Architekten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Die einen nennen ihn tempio di Nettuno (= römisch Neptun), die anderen verwenden lieber den griechischen Namen Poseidon. So oder so war der Tempel aber dem Herrscher über den Ozean und dem Gott der Meere gewidmet.
Man kann auf dem Gebiet von Paestum, das von einer 4,75 km langen Stadtmauer und vier großen Stadttoren umgeben ist, aber auch noch andere Dinge entdecken. Denn natürlich fand in der griechischen Kolonie auch ein lebendiges politisches Leben statt: Im so genannten Ekklesiasterion versammelten sich die Bürger*innen, die ein volles Bürgerrecht innehatten. Ekklesia ist das griechische Wort für Versammlung. Zwischen 1100 und 1700 Menschen fanden in dieser terrassenförmig angelegten Stätte Platz, also nur ein Bruchteil der gesamten Bevölkerung. Mit welchen Städten schmieden wir Allianzen, wen hingegen greifen wir an? Wer soll welches politische Amt verkörpern, wie soll die Infrastruktur der Stadt gestaltet werden? Diese und andere wichtige Fragen wurden im Ekklesiasterion beraten und entschieden. Wenn man heute vor den Ruinen dieses Gebäudes stehen, wird ein Hauch von Demokratie spürbar.
Velia
Das führt uns in die zweite der dem archäologischen Park zugehörigen Stätten: Velia. Sie liegt ebenfalls nur wenige Kilometer vom Meer entfernt, wurde aber anders als Paestum konstruiert und genutzt, nämlich in die angrenzenden Hügel gebaut.
Die Flächen zum Meer hin versandeten im Laufe der Jahrhunderte wie in Paestum und wurden nach und nach unbrauchbar. Oben auf dem höchsten Punkt gelegen sind ein Burgturm und ein noch gut erhaltenes Amphitheater zu besichtigen, beides Teil der Akropolis.
Der griechische Name Akropolis steht für Oberstadt.
Er bezeichnet im ursprünglichen Sinn den zur Stadt gehörenden Burgberg beziehungsweise die Wehranlage, die zumeist auf der höchsten Erhebung nahe der Stadt erbaut wurde.
Velia ist aber vor allem auch bekannt für die philosophische Schule von Parmenides und Zenon. Sie begründeten die eleatische Schule, welche zu den vorsokratischen gehört. Der Kern ihrer Philosophie bestand in der Lehre, dass sich das Wesen der Dinge nicht mittels der Sinne, also durch Anschauung wahrnehmen, sondern nur mittels des Denkens begreifen lasse. In den heutigen Zeiten, so möchte man meinen, wäre ein bisschen mehr Nachdenken bisweilen nicht verkehrt. Parmenides gilt aber auch als bedeutender Vertreter der Westgriechischen Medizin. Von ihm soll der Satz stammen:
„Gib mir die Macht, Fieber zu erzeugen, und ich heile jede Krankheit!“
Antike Baukunst hier wie dort, dazu eine Portion Philosophie und Medizin, ferner teils prächtige Ausblicke aufs Meer: Eine Reise in die Geschichte kann sehr lehrreich sein und zugleich viel Freude machen.
Als wir vor neun Jahren zum damals ersten Besuch von Paestum fahren, ist schon von weitem laute Musik, unterbrochen von rasend schnell gesprochenen italienischen Sätzen zu hören. Wir staunen nicht schlecht: Die Tempel von Paestum dienen als Kulisse für eine Modenschau. Wohl frisierte und proportionierte Damen in Bikinis führen die neuesten Modelle der italienischen Bademode vor. Da haben wir ihn wieder – den Zusammenprall von Moderne und Antike…
Fotos: Sabine Tonscheidt
Absoluter Lieblingsort. Da war ich vor 40 Jahren das erste Mal.