Über Flucht und Ankommen
Immer wenn meine Schwester mir ein Buch empfiehlt, höre ich genau hin – dieses Mal habe ich es sofort bestellt. Aus diesen Gründen: 1. weiß Sabine, welche Themen mich ansprechen; 2. haben wir beide – sie in Frankfurt, ich in Köln – Ukrainerinnen nach ihrer Flucht unterstützt; 3. möchte ich endlich mal wieder einen Beitrag für unsere ohfamoose Rubrik Migration schreiben. Dort findet man weitere Fluchtgeschichten rund um Abschied und Ankommen.
„Unsere Geschichten. Die Flucht in eine fremde Heimat“ – so lautet der Titel dieses besonderen Buches, das vor mir liegt. Drei Jugendliche im Schneidersitz schauen darauf einem gelb-rötlichen Himmel entgegen. Ansonsten ist das Buch ganz in schwarz gehalten. Was für ein ´Feuerball` ist das? Ein Sonnenaufgang? Und woher stammen die drei, was tun sie dort?
Die Herausgeberin Sultana Barakzai teilt in ihrem Buch Fluchtgeschichten.
Nicht ihre, sondern die von Schüler*innen nicht-deutscher Herkunftssprache. Jugendlichen, die sie unterrichtet und denen sie genau zugehört hat. Sieben jungen Menschen aus Afghanistan, Irak, Iran, der Republik Moldau, Syrien und der Ukraine konnte sie so eine Stimme geben, was ihr Ziel war – und was ihr, das nehme ich gern vorweg, gelungen ist.
„Das Teilen von Fluchtgeschichten ermöglicht es uns, in die Schuhe der Betroffenen zu schlüpfen, ihre Emotionen zu verstehen und ihre Perspektiven zu würdigen.“ (Sultana Barakzai)
Das Buch entstand im Herbst 2022 im Projektunterricht an der hessischen Clemens-Brentano-Europaschule, die – so schreibt es ihr Schulleiter Andrej Keller selbst im Grußwort – früher als „Türkenschule“ diffamiert wurde. Heute kennt man sie als CBES und als Kooperative Gesamtschule mit Oberstufe. Sie ist ein Zentrum der Vermittlung von Deutsch als Zweitsprache im Landkreis Gießen.
Was sind das für Fluchtgeschichten?
Die Fluchtgeschichten handeln von Aufbruch und Ankommen, von Entsetzen und Dankbarkeit, von Liebe und Verzweiflung. Dazwischen liegen schier unvorstellbare Reisen in Autos, LKWs, Bussen, zu Fuß, im Zug oder in Booten, die für wenige Menschen zugelassen, aber völlig überfüllt auf Meeren unterwegs waren.
So musste Chaima Kenaou bereits als Siebenjährige mit ihrer Familie vor den Angriffen des Islamischen Staates fliehen, und sie erwähnt den 3. August 2014 gleich zweimal – beendete er doch, schreibt sie, ihre Kindheit. Chaima lebte sodann in der Türkei in einem Flüchtlingsheim unter der Obhut des Militärs, sie floh weiter über Istanbul nach Griechenland, bis sie über Mazedonien, Serbien, Kroatien, Slowenien und Österreich nach Deutschland kam.
Vielleicht beschreibt nur diese Passage aus dem Buch Chaimas Fluchtgeschichte in aller Deutlichkeit:
„Viele Ältere waren schon bereits am Straßenrand gestorben. Während ich dort mit meiner Oma saß, welche meine Brüder getragen hatte, weil sie zu schwach waren, um zu laufen, sah ich eine Frau Mitte 20. Die Frau war in einem schlechten Zustand und trug ein kleines Mädchen, welches in ihren Armen weinte. Anschließend legte die Frau das kleine Kind am Straßenrand nieder und lief einfach weiter, ohne sich einmal umzudrehen.“
Alle sieben Geschichten berühren sehr, spiegeln sie doch die Schicksale derjenigen, die fliehen mussten. Jugendliche, die manchmal noch Kinder waren, und die eines vereint, auch wenn sie aus so unterschiedlichen Ländern kamen: Sie suchten und fanden eine Sprache für ihre Erfahrungen, schildern in ihren Erzählungen, wie sie brutal herausgerissen wurden aus ihrer Heimat – dann aber, Gottlob, eines Tages bei uns in Deutschland anknüpfen konnten, weil es Menschen gab und gibt, die ihnen dafür eine Chance gaben und geben.
Erinnerung an die Fluchtgeschichte von Dr. Umes
Beim Lesen musste ich zwischendurch an Umeswaran Arunagirinathan denken – oder auch Dr. Umes, wie er sich selbst nennt. Der heutige Herzchirurg landete bereits 1991 unbegleitet als 12jähriger tamilischer Kriegsflüchtling nach achtmonatiger Flucht in Frankfurt. Über sein Buch Der fremde Deutsche habe ich bereits geschrieben. Dr. Umes ist für mich ein leuchtendes Beispiel gelungener Integration, der ebenfalls eine harte Fluchtgeschichte vorangegangen ist. Er hat übrigens weitere lesenswerte Bücher geschrieben.
Dass nicht nur Chaima, sondern auch Hania (Afghanin, im Iran geboren), Kateryna (Ukrainerin), Obaid (geflohen aus Afghanistan), Ros (Syrerin), Oleksandr (Ukrainer) und Victoria (Rumänin, geflohen aus der Republik Moldau) ihre Fluchtgeschichten aufschreiben konnten, ist ihrer Lehrerin Sultana Barakzai zu verdanken. Denn Sultana (mehr über sie am Ende dieses Beitrags) weiß:
„Zu einer erfolgreichen Integration gehört es nicht nur, eine neue Sprache zu erlernen und sich mit der neuen Heimat zu beschäftigen, es gehört eben auch dazu, über die „alte“ Heimat sprechen zu dürfen.“ (Sultana Barakzai)
Und die Lehrerin weiß auch, dass in unserer unsicheren Zeit Fluchtgeschichten immer relevanter werden. „Sie erinnern uns daran, dass wir alle Teil einer globalen Gemeinschaft sind und Verantwortung tragen, uns für eine gerechtere, mitfühlendere Welt einzusetzen.“ So Sultana Barakzai im Vorwort des Buches.
Wie beurteilt der Schulleiter die Fluchtgeschichten?
Neben den Geschichten und Illustrationen hat mich zudem beeindruckt, wie der bereits erwähnte Schulleiter Andrej Keller, selbst Sohn von Migranten, die Integrationsleistungen der jungen Autor*innen einordnet. Seien sie doch im übertragenen Sinne mit „vollgepackten Rucksäcken in Deutschland angekommen und kämpfen um ihren Platz im Leben“. Rucksäcke voller „schwerer Wackersteine – wie das Unverständnis der deutschen Sprache, neue fremde Sitten oder fehlende Freunde“. Keller sieht jedoch auch das, was in diesen Rucksäcken leuchtet:
„Viele lebenswerte Schätze wie Sprachenvielfalt, Erinnerungen, Erfahrungen, andere Perspektiven auf die Welt, Anpassungsfähigkeit, die Kraft, das Ankommen zu gestalten.“ (Andrej Keller)
Dass der Büchner Verlag in Marburg diese Schätze im Buch „Unsere Geschichten. Die Flucht in eine fremde Heimat“ zum Leuchten bringt, erschließt sich vielleicht erst auf den 2. Blick. Denn primär bekommt man einen oft erschütternden Blick auf das seelische Gepäck der sieben Autor*innen, wie auch dieses Beispiel zeigt:
„Meinem Vater war klar, dass wir aus Syrien flüchten müssen. Leider verstarb er an einer Corona-Erkrankung. Meine Mutter ist jetzt ein Vogel mit gebrochenen Flügeln. Wir waren hilflos und es war niemand mehr da, der uns beschützen konnte.“ (Ros Ibrahim)
In jeder Fluchtgeschichte schimmert etwas Positives
Fluchterlebnisse, die schon jetzt traumatisch sind und/oder sein mögen – und ja, das Buch liest sich nicht so einfach nebenher. Jeder Beitrag enthält jedoch auch etwas Positives – und das hat stets mit Menschen zu tun, die unterstützten, neue Freunde wurden: Mitschüler*innen, Eltern neuer Freunde, freiwillige Helfer*innen oder Lehrer*innen. Auch das spiegeln die Fluchtgeschichten, und ich möchte mit zwei Zitaten schließen:
„Ich bin so glücklich, alles liegt hinter mir. Wir sind jetzt in Sicherheit! Das ist meine Geschichte, das ist mein Leben! Sei niemals schwach im Leben, tu was du willst, du schaffst das!“ (Hania Shojaee)
Und manchmal helfen auch Ehrgeiz und Humor! So beendet Oleksandr Suiarko seine Fluchtgeschichte wie folgt:
„Jetzt gehe ich auf eine deutsche Schule und es gefällt mir hier sehr gut. (…) In der Zukunft möchte ich Programmierer werden, aber auch Youtube-Videos machen, Grundlagen der Soziologie kennen und mich in der Politik engagieren und vielleicht Präsident der Ukraine werden. Ehrgeizig? Natürlich! Aber merken Sie sich meinen Namen für alle Fälle!“
Wer ist die Herausgeberin Sultana Barakzai? Die heutige Lehrerin an der Clemens-Brentano-Europaschule (CBES) in Lollar wurde 1992 als Tochter afghanisch-stämmiger Eltern im hessischen Vogelsbergkreis geboren. Bereits als Jugendliche engagierte sie sich ehrenamtlich für junge geflüchtete Menschen bei den Schottener Sozialen Diensten. Sie studierte Deutsch und Geschichte auf Lehramt in Gießen. An der CBES unterrichtet Sultana Barakzai hauptsächlich Deutsch als Zweitsprache und ihr Engagement gilt den Bereichen Internationale Austauschprogramme und UNESCO.
*Ein Danke gilt auch einer weiteren Lehrerin: Wiebke Meuser. Sie hat das Projekt intensiv begleitet und soll hier nicht unerwähnt bleiben, weshalb sie auch auf dem Foto abgebildet ist. Frau Meuser ist die Profilschulbeauftragte für Kulturelle Bildung in der Sparte Literatur an der CBES.
Fotos via Büchner Verlag, Marburg
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