Wenn die Seele hinterherhinkt
Darf man bei all den furchtbaren Konflikten und Krisen in der Welt über das individuelle Unwohlsein klagen? Unsere Gastautorin Sabine Tonscheidt, kürzlich von einem Sehnsuchtsort zurückgekehrt, meint: JA. Denn die Leiden in der Welt haben zumeist nur bedingt etwas mit dem persönlichen Glück oder Unglück zu tun.
Man hat es nicht leicht mit mir in diesen Tagen. Wie eigentlich immer, wenn ich von einem längeren Aufenthalt in Italien zurückkehre. Dann ist da so ein großes, schwarzes Loch in mir, das sich langsam ausbreitet, meinen Körper durchdringt, das gefüttert werden will mit Aussagen wie: „Oh Gott, wie kalt und regnerisch es hier wieder ist….“, um noch größer und schwärzer zu werden.
Oder damit: „Wenn ich in all diese traurigen Gesichter der Menschen blicke… schrecklich! Und schau nur, wie schlecht die Deutschen gekleidet sind, kein Sinn für passende Farben…“
Eccoci quà: Hier sind wir wieder, an einem dieser, meiner Übergänge.
Die Schriftstellerin Bernadette Conrad (mehr über sie am Artikelende) sagte mir kürzlich leicht grinsend, sie sei Expertin für Übergänge. Für dieses schmerzhafte Losreißen aus einem Sehnsuchtsort. Dieses Zwischenstadium zwischen „nicht mehr ganz dort“ und „noch nicht ganz hier“. Der Schnitt, der das Zurückkehren ins „normale“ Leben markiert. Aber was ist schon normal? Und was anormal?
Diese Momente, wenn man denkt, dass nichts mehr, aber wirklich gar nichts mehr geht im Hier und Jetzt. Wenn alles fad wirkt und trist und nur das, was man gerade verlassen hat, Farben hat – im Geiste und im Herzen. Diese Momente, wenn man immer wieder die Fotos auf dem Handy anschaut, mit Herzchen zu den Favoriten packt und verzweifelt eine Story nach der anderen auf WhatsApp postet, um nach Hilfe zu rufen: ‚Schaut doch nur, ich habe dieses wunderbare Italien mit all den warmen Farben, tollen Menschen, dem leckeren Essen, der reichhaltigen Landschaft und Natur verlassen müssen…‘ Was für Sehnsuchtsorte!
Ist langes Verreisen ein Privileg?
Und dann höre ich das: ‚Oh Mann, jetzt macht die wieder so ein Theater – dabei war sie gerade fast vier Wochen im Süden Italiens, wer kann sich denn so etwas überhaupt leisten? Und jetzt stöhnt sie auch noch…‘
Ja, ich weiß. Mein Hirn sagt mir klipp und klar: Es gibt nichts zu jammern.
Ich darf dankbar sein für diese vielen tollen Momente, die ich in den letzten Tagen und Wochen erleben durfte. Wenige Menschen können das.
Und ich bin auch dankbar, sehr sogar. Weiss, dass es ein Privileg ist, dass ich so lange verreisen durfte. Wobei mir ebendiese Bernadette sagte, sie habe so ihre Probleme mit dem Wörtchen „Privileg“. Denn es gäbe eigentlich immer eine Möglichkeit zu wählen, sich das zu suchen, was passt, was einen glücklich macht, auch wenn man weniger Geld oder Freizeit habe. Solange jedenfalls, wie man gesund bleibt und die Wahl hat….
Übergang – der Duden schlägt dafür unter anderem die Bedeutung vor: Wechsel zu etwas anderem, Neuem, in ein anderes Stadium. Und genauso fühle ich mich: Wie ein Chamäleon, das erst seine richtige Farbe finden muss für die neue bzw. alte Umgebung, mein Zuhause. Das schön ist, keine Frage. Und auch vieles von dem hat, was ich liebe. Aber was soll ich bloß finden am Hagelsturm beim Blick aus dem Fenster am nächsten Morgen?
In der Nacht noch hatte ich kurz die Assoziation, weiter in dem kleinen Steinhäuschen zu liegen, das früher mal eine Backstube war und in den letzten dreieinhalb Wochen unser Domizil. Im Erdgeschoss Küche und Wohnraum und Bad, über ein paar Treppen nach oben erreichbar dann das Bett nebst einer Kleiderstange. ‚Vielleicht kannst du den Gang die Treppen hinunter noch ein wenig hinauszögern…‘ dachte ich kurz noch im Halbschlaf. Bis ich mich daran erinnerte: ‚Der Flieger ist doch schon gestern gegangen, ich bin wieder daheim. Das WC ist auf gleicher Ebene…‘
Mein Partner versucht es auf Fahrt mit der S-Bahn vom Flughafen nach Hause mit: „Schau doch, die Magnolien blühen schon. Es ist Frühling, und auch die Sonne scheint ein bisschen.“ Recht hat er. Sehe ich ja selbst. Und wenn ich ehrlich bin, dann war die Natur im südlichen Italien auch nicht viel weiter als hier in Frankfurt. Aber so viel Mühe er sich auch gibt, innerlich schüttele ich heftig den Kopf. Äußerlich versuche ich, mich so gut es geht zusammenzureißen.
Okay, in Deutschland gibt es Vollkornbrötchen, auf die freue ich mich schon morgen beim Frühstück. Und das Kopfkissen im heimischen Bett ist auch ein bisschen angenehmer als das im Urlaub.
Ja, natürlich weiß mein Kopf, dass es nicht stimmt, dass in Italien alles besser ist als in Deutschland.
Aber Herz und Seele hinken hinterher. Auf Wikipedia finde ich zum besagten Chamäleon die Beschreibung: „Je nach Stimmung wechseln Chamäleons die Farbe. Bei Bedrohung stellen sie sich tot.“ Totstellen, wäre das jetzt eine Alternative für mich? Sich einfach nicht bewegen und hoffen, dass alles schon vorüber geht?
Tricks, sich das Urlaubsgefühl zurückzuholen
Meine Tricks, mit denen ich mich „am Tag danach“ versuche aufzurichten, innerlich wie äußerlich, sind zum Beispiel: italienische Musik zu hören, möglichst laut.
Mitzuleiden, wenn Zucchero singt: „Ti porterò con me, sai, quando vado via.“ – „Ich werde dich mitnehmen, wohin ich auch gehe.“ Die Augen zu schließen und all den schönen Ausblicken und Augenblicken, den freundlichen Menschen, den tiefroten Sonnenuntergängen, den Eseln und Ziegen noch einmal ausgiebig nachzuspüren. Dabei ein Tränchen zu verdrücken und mir im Geiste selbst wohltuend zuzulächeln: ‚Es wird wieder, glaube mir. Und du kannst ja auch wieder dorthin zurück, irgendwann…‘
Übergänge äußern sich bei mir auch ganz praktisch: Ich ertappe mich dabei, dass ich das Auspacken des Koffers und das Anstellen der Waschmaschine noch ein kleines bisschen raus zögere. Den Reiseführer und die Straßenkarte (ja, ich haben so was analoges noch!) gemeinsam mit all den Sachen, die ich mitgebracht habe aus dem Süden, auf dem Wohnzimmertischchen arrangiere. So, als hätte ich Geburtstag gehabt, und das wäre jetzt mein Geschenketisch. So kann ich die schönen Dinge noch ein Weilchen betrachten.
Und so gerne ich auch wieder aus dem Vollen und Neuem schöpfe beim Öffnen meiner Kleiderschranktüren: ‚Das T-Shirt, das ich so gerne getragen habe in den letzten Tagen – ich kann es doch auch heute noch anziehen, noch müffelt es doch nicht…‘ Irgendein Kleidungsstück aus den Urlaubstagen nehme ich also mit, kombiniere es mit etwas Frischem und denke, so könnte es klappen, nach und nach. Geduld mit mir haben – ach, auch das könnte helfen.
Weniger hilft mir jetzt ein Satz wie ‚Stell dich doch nicht so an. Das ist nur Jammern auf hohem Niveau.‘
Ich glaube, solche Sätze sagen Menschen, die so etwas selten oder vielleicht noch nie erfahren haben.
Die vielleicht weniger tief eintauchen in die Fremde, weniger tief empfinden, was auch seine Vorteile haben kann: Dann braucht man sich wenigstens nicht totstellen wie ich als Chamäleon….
Sehnsuchtsort Süditalien
‚Omnia mutantur, nihil interit.‘ – ‚Alles wandelt sich, nichts vergeht.‘ Dieses Zitat stammt vom antiken römischen Dichter Ovid: Ein schöner Satz, der vieles in sich birgt. Das Zitat steht auch auf der grellgrünen Postkarte, die ich vor ein paar Tagen im Museumsshop der griechischen Ausgrabungsstätte Paestum im gleichen Süditalien kaufte. Und sie, statt sie zu verschicken, behielt und nun als Lesezeichen nutze. Spannend, wie die Dinge zu einem kommen, ohne dass man eigentlich nach ihnen sucht….
Mehr über Sabine Tonscheidt und unsere ohfamoosen Gastautor*innen
Mehr über Bernadette Conrad: Sie lebt als Schriftstellerin in Berlin, ihr Roman „Was dich spaltet“ ist 2023 erschienen. Sabine durfte sie kürzlich in Castellabate, ein Sehnsuchtsort beider Frauen, kennenlernen. Bernadette empfiehlt, sich die Übergänge ganz bewusst zu machen, nichts Falsches daran zu finden, „wenn man für zwei, drei Tage noch keinen rechten Boden unter den Füßen fühlt…“. Schließlich sage eine indianische Weisheit, die sie in diesem Kontext erwähnt, dass die Seele eben nicht so schnell mitkomme wie der Körper.
Weitere Tipps zum Überbrücken der Übergänge:
- Im Internet gleich nach dem nächsten Live-Auftritt des Lieblingssängers oder -gruppe schauen.
- In den nächsten italienischen Supermarkt gehen und Mozzarella di Bufala oder Mortadella kaufen; letztere Scheibchenweise direkt aus der Einpackfolie essen und dabei mit geschlossenen Augen den leicht würzigen, unwiderstehlichen Duft wahrnehmen.
- Oder aber den italienischen Friseur oder die italienische Schneiderin aufsuchen, selbst wenn man das Loch im Pulli eigentlich auch alleine nähen könnte…
Sabine empfiehlt folgende Musikstücke:
Das Lied von Zucchero, das Sabine nach einem Italienbesuch so gerne hört und dazu für sich ganz alleine tanzt, heißt Rossa mela della sera
Auch helfen könnte Paolo Contes Gelato al limon‘, dabei an die dicken Amalfi-Zitronen denken 🙂
Oder das wahnsinnig melancholische Lied Caruso hören, das dem berühmten neapolitanischen Tenor Enrico Caruso gewidmet ist. Gesungen vom großen cantautore Lucio Dalla, gemeinsam mit dem ebenso großartigen Luciano Pavarotti, beide leider längst verstorben.
Was ein schöner Text (mal wieder..) und was für herrliche Tipps, um den Übergang der eigenen Rückkehr, in 10 Tagen, vom Comer See, etwas leichter zu machen.. grazie mille!
Danke für diesen tollen Beitrag. Ich war gespannt bei der Überschrift und voll ins schwarze. Ich werde ihn mir noch ein zweites mal durchlesen. Da ist soviel von mir darin.
Herzliche Grüße
Elke von einfachelke.de