Allein durch Nordhessen
Es sollte eigentlich alles ganz anders kommen: Einer Freundin hatte Sabine zum Geburtstag zwei Tage Kurzurlaub geschenkt. Aber die Freundin musste kurzfristig absagen, und so machte sich Sabine allein auf den Weg. Ziel des Kurztrips: Borken im nördlichen Hessen.
Schon der Morgen der Abfahrt ist irgendwie besonders. Durch den Feiertag liegt eine gewisse Stille über Frankfurt. Ich bin bereits früh aufgestanden, die allmorgendliche Rückengymnastik liegt hinter mir. Die Sonne scheint aus ganzen Kräften, und doch ist alles noch morgendlich frisch. Da ich allein reisen werde, gibt es keine bestimmte Abfahrtszeit. Ich ertappe mich dennoch dabei, mir beim Frühstück nicht wirklich Zeit lassen zu können. Der Mietwagen, den ich aufgrund der veränderten Umstände kurzfristig gebucht hatte, ist gewiss nicht das Problem: Er wird eh auf mich warten, und die 3,50 € Leihgebühr pro Stunde sind auch noch drin. In mir ist vielmehr eine Mischung aus: möglichst früh weg zu kommen, vor all den anderen Feiertagsmenschen, um den Tag voll auszukosten, keine Zeit zu verlieren – gepaart mit einer Portion Neugier und Aufbruchstimmung.
Allein zu reisen, das hat was.
Eine Frau, die ich tags drauf in meinem gebuchten B&B kennenlernen werde, meint zum Thema Alleinreisen nur: „Ach, was bedeutet schon alleine zu reisen? Man bleibt doch nie allein, man muss nur mit den Menschen ins Gespräch kommen.“
Borken in Nordhessen
Mein Ziel: Borken in Nordhessen. Ein Tipp, den mir eine Frau gab, die ich erst kurz zuvor auf einer Veranstaltung kennengelernt hatte. Sie schwärmte von dem Kleinod, ein ehemaliges Wasserschloss, das ein paar Zimmer als B&B vermietet. Ein, zweimal schalte ich das Radio an. Aber die Musik passt einfach nicht, sie lenkt von der morgendlichen Stille ab, die noch über dem Rheinmain-Gebiet liegt. Ich merke, wie alles eine Form von Leichtigkeit hat. Die sich auch darin äußerte, dass ich – eigentlich ein Mensch, der Plänen und Strukturen durchaus nicht abgeneigt ist – mich einfach treiben lasse. Nur grob habe ich mir die Landstraßen rausgesucht, auf denen ich gen Borken fahren will. Nicht das Ankommen, sondern das Reisen selbst ist das Ziel. Im dortigen B&B habe ich lediglich um 18 Uhr eine Massage abgemacht. Bis dahin stand der Tag zur freien Verfügung.
Kloster Engelthal
Schon knapp 40km nördlich von Frankfurt biege ich bei einem Wegweiser ab: Kloster Engelthal. Ich entdecke einen bezaubernden Ort, mitten im Grünen der Wetterau gelegen. Ein ehemaliges Zisterzienserinnenkloster, das auch heute noch von Ordensschwestern der Benediktiner bewohnt wird.
Ein Ort der Stille und der Begegnung. Der auch über ein paar Gästezimmer verfügt, für Menschen, die abseits des Rummels zur Ruhe kommen wollen. Ich merke mir diesen Ort, vielleicht kann ich ihn ein anderes Mal auch für eine Übernachtung buchen? Im Gästegarten bleibe ich ein paar Minuten im Schatten sitzen, halte inne, fühle mich wohl, und obgleich ich allein bin, fühle ich mich ganz und gar nicht einsam.
Schmuckes Büdingen
Keine 20km weiter wartet das mittelalterliche Städtchen Büdingen auf mich. Seltsamerweise bin ich dort noch nie gewesen, obgleich ich – in Etappen – schon mehr als 20 Jahre in Frankfurt lebe. Es kommt am späten Vormittag vergleichsweise ruhig daher, nur eine Gruppe Amerikaner wird von einer Stadtführerin durch den Ort gelotst, vorbei an toll erhaltenem Fachwerk und einer imposanten Stadtmauer.
Die mächtige Marienkirche von Büdingen betrete ich und entdecke eine Tafel mit lauter blauen und gelben Zetteln. Notizen von Menschen, die sich Frieden für die Ukraine wünschen. Daneben die eindringlichen Worte des verstorbenen russischen Oppositionspolitikers Alexej Nawalny, der Putins Kriegs- und Größenwahn zum Opfer fiel. In seinem Schlusswort vor dem Moskauer Stadtgericht, als er nach seiner Rückkehr nach Russland im Februar 2021 verhaftet wurde, zitiert er den Bibelspruch: „Selig sind die, die da hungert und dürstet nach Gerechtigkeit, denn sie sollen satt werden.“ Das Verlangen nach Gerechtigkeit – das hatte Nawalny stets als Handlungsanweisung betrachtet… Ein Stück Weltpolitik also auch hier in der Kirche zu Büdingen.
Am Fuße des Vulkans
Ein paar Kilometer weiter gen Norden, in der Nähe des Ortes Lauterbach, wartet der nächste Stopp auf mich: spontan folge ich dem Schild Schloss Eisenbach. Märchenhaft liegt es auf einem Felssporn, von der nördlichen Straßenseite später noch besser zu bewundern, fast wie eine Trutzburg. Und ja, 1217 das erste Mal erwähnt, hieß sie noch Burg Eisenbach, benannt nach dem namensgebenden Fluss, der durch den frei zugänglichen Park rauscht. Hier blühen wilde Vergißmeinnicht und jede Menge Pusteblumen.
Vor und nach dem Schlossbesuch werde ich auch immer wieder aufmerksam auf Schilder zum so genannten Vulkanradweg: Auf 94 km Länge, so recherchiere ich, schlängelt er sich weitgehend auf der Trasse der ehemaligen Oberwaldbahn durch eine herrliche offene Wald- und Wiesenlandschaft. Ich denke, das Ganze werde ich bald schon auf meinem E-Bike aus erkunden.
Bitte was ist Schwartemagen?
Zeit für eine kleine Stärkung. Im nächsten Ort mache ich halt in einer Pizzeria, die hier Sandy heißt, und bestelle ein alkoholfreies Weizenbier und einen Salat. Auf der Karte entdecke ich doch glatt: Pizza Schwartemagen. So was gibt’s? Vermutlich nur in Nordhessen… Die Gegend ist nämlich bekannt für ihre Wurstspezialitäten. Ahle Wurst (oder auch Worscht) heißt hier die luftgetrocknete oder leicht geräucherte Dauerwurst, die man keinesfalls Salami nennen sollte. „Ahle“ steht für alt, weil sie recht lange bis zum Verzehr reifen darf. Immer wieder komme ich bei meiner Reise an Hofläden vorbei, die Wurst in allen denkbaren Arten verkaufen – auch Schwartemagen.
Schloss Hirschgarten
Nach knapp 200 km ohne Hast und Eile über verschiedenste Landschaften komme ich schließlich an meinem Übernachtungsziel an: Schloss Hirschgarten. Ingeniis patuit campus – das Feld liegt offen für den Geist. Dies hatte ich im Vorfeld auf der Website gelesen. Und denke daran beim Betreten des Areals.
Eine ganz und gar zauberhafte Ruhe geht von den Gemäuern aus. Zwei Hirschköpfe aus Stein, die dem Schloss, das heute eher einem Gutshof ähnelt, wohl seinen Namen gaben, glotzen mich von der Brücke über den Schlossgraben an. Im so genannten „Schweizer“-Haus befinden sich die Zimmer des B&B. Früher waren hier die „Schweizer“ untergebracht, die verantwortlich für die Tiere, insbesondere die Rinder waren. Ein kleiner Blumenstrauß erwartet mich auf dem alten Sekretär im sehr geschmackvoll eingerichteten Zimmer. Ich weiß jetzt schon, dass ich hier bestens schlafen werde – und genauso ist es.
Am nächsten Morgen erwartet mich um halb neun die „Burgherrin“ bei den Hirsch-Skulpturen, um mich persönlich zum opulent gedeckten Frühstückstisch zu führen. Im ehemaligen Hochzeitssaal des Schlosses strotzt der Tisch nur so voller Köstlichkeiten. Von der anderen allein reisenden Frau erfahre ich, dass sie, in Hamburg wohnend, jedes Jahr eine Woche alleine Urlaub macht in unterschiedlichen Orten Hessens.
Kräutergartenglück
Nach dem Frühstück nimmt sie mich mit in den Kräutergarten, der hier von den Schloss-Besitzern angelegt wurde. In einem Flyer hatte ich am Vorabend gelesen, dass eine Mitarbeiterin vor Betreten des Kräutergartens stets ein kleines Glöckchen läutet: „Dies ist ein Moment des Grußes an alle Pflanzen und für mich ein Moment des Innehaltens, bevor ich das Reich der Pflanzen betrete.“ Am Torbogen des Gartens entdecke ich das kleine Glöckchen und muss schmunzeln. Später werde ich diesen wunderschönen Ort bepackt mit fünf Sorten Bio-Kräutertee und einer Menge wohliger Eindrücke verlassen – nicht zuletzt von einer wunderbaren Massage. Und mit der Absicht, unbedingt in naher Zukunft zurückzukehren.
Mein Fazit der Reise nach einem Kloster, zwei Schlössern, zwei Stopps an Hofläden und jede Menge sonniger Ausblicke: Manchmal müssen es nicht Reiseziele in der fernen Welt oder die bombastischen Erlebnisse sein, um das kleine oder größere Glück zu finden. Vielmehr laden gerade die kleinen Entdeckungen am Wegesrand, die man findet, weil man sich treiben lässt, dazu ein, innezuhalten, sich am Leben und der Natur, an Gesundheit und sich selbst zu erfreuen. Und zugleich steht fest: Die Reise mit meiner Freundin werden wir ebenso nachholen.
Links:
https://www.abtei-kloster-engelthal.de/
https://www.schloss-eisenbach.de/
Ahle Wurst gibt es beispielsweise hier:
https://traditionsmetzgerei-kramer.de/ (in Borken, die Metzgerei hat eine große Auswahl an Ahler Wurst, von traditionell bis hin zu Chili oder mit Walnüssen; es gibt auch einen Online-Versand)
http://www.hofladen-ruehl.de/ (hier empfehle ich die Kartoffelwurst, geräuchert ähnelt sie einer würzigen Mettwurst, man kann sie aber auch als frische Wurst hervorragend auf den Grill schmeißen; die Familie Rühl ist mit ihren Produkten auch donnerstags und samstags auf dem Konstabler Wochenmarkt in Frankfurt zu finden)
Dies ist ein schöner Bericht über eine kurze, aber glückliche Reise. Ich bewundere und danke dem Autor