Die leblose Gesellschaft – ein Plädoyer für mehr Mitgefühl
Zum 1. Mal höre ich von Jeannette Hagen in einer Sendung von DeutschlandradioKultur. Da wird ihr neues Buch vorgestellt. Ich recherchiere und lande wenig später bei ihr „auf Facebook“. Wir chatten ein paar Mal, dann ist klar: „Die leblose Gesellschaft“ bzw. das Plädoyer der Autorin passt genau zu ohfamoos. Warum, das lest bitte in ihrem Gastbeitrag!
„Schreib es! Fang sofort damit an!“ Ganze fünfzehn Minuten hatte ich Zeit, den Verleger Christian Strasser von meiner neuen Buch-Idee zu überzeugen. Davon, dass ich herausfinden wollte, warum sich immer weniger Menschen von den Tragödien um uns herum berühren lassen. Warum wir wegschauen. Ignorieren, dass es eigentlich längst fünf vor zwölf ist. „Schreib das. Du bist die Frau fürs Fühlen.“ sagte Strasser und lächelte.
Nun gibt es das Buch und darin ist zu lesen, dass es schlecht um unsere Gefühle steht. Allem voran um unser Mitgefühl. Aber auch um Gefühle wie Hilflosigkeit, Unzulänglichkeit oder Verzweiflung. Letztere wollen wir nicht. Sie passen nicht in eine Leistungs- und Wohlfühlgesellschaft, die sich auf die Fahne geschrieben hat, glücklich, gesund und vor allem fortschrittlich zu sein. Wir wollen nicht mehr in der Vergangenheit wühlen. Alles soll funktionieren.
Wir wollen funktionieren. Wir wollen auch Fehler nicht mehr eingestehen. Nicht sehen, dass wir uns verrannt haben. Das wir uns als Gesellschaft verrennen. Jeden Tag, an dem wir unsere Gefühle verdrängen.
Als ich im Sommer 2015 auf dem Weg von Dover nach Dünkirchen auf einer Fähre stand und auf einem Flatscreen die Bilder aus Mazedonien sah – das Leid der Geflohenen, jene Menschen, die sich zu Tausenden auf den Weg gemacht haben, um dem Krieg zu entkommen, wurde mir schlagartig klar, dass wir die Probleme unserer Tage nur lösen können, wenn wir uns wieder unseren Gefühlen zuwenden. Das, was wir derzeit erleben – der offene Hass gegen Geflohene, die große schweigende Mitte – das sind Symptome einer Entwicklung, die seit vielen Generationen unser Menschsein prägt.
Wir haben den Kopf über das Herz gestellt. Das Denken dominiert das Fühlen. Damit sind Gefühle suspekt geworden. Schlimmer noch: sie werden als Schwäche abgetan. Als „weibisch“ deklariert. Wir müssen sie verneinen, um uns gesellschaftlich halbwegs akzeptabel zu finden. Härte statt Verletzlichkeit zu zeigen, ist Usus. Zum Weinen gehen wir ins Kino. Zu groß die Scham angesichts öffentlicher Tränen. Zu groß die Angst, verlacht, als Weichei oder Träumer abgestempelt zu werden.
Es lässt sich gar nicht so genau sagen, ob es die industrielle Revolution war, die den Startschuss dafür gegeben hat oder ob die Tendenz, dem Denken den Vorrang vor den Gefühlen zu geben, noch weiter zurückreicht. Fakt ist, dass sie die Säge ist, mit dem wir den Ast, auf dem wir sitzen, fleißig ansägen.
Wir stecken heute nicht in einer Flüchtlingskrise. Nein, wir stecken in einer emotionalen Krise. Es sind die Geflohenen, die den Finger sehr schmerzhaft in diese Wunde legen.
Seit 2014 sind rund 10.000 Menschen auf der Flucht gestorben. Über 20 Millionen Kinder sind auf der Flucht. Was wir derzeit erleben, ist ein Spiegel für den Zustand unserer Welt. Und es stellt sich die Frage, wie lange wir noch tatenlos zuschauen wollen. Natürlich kann nicht jeder die Welt retten. Das ist auch gar nicht nötig. Es würde schon reichen, wenn wir tief in uns horchen und fühlen, was es mit uns macht, das Elend der Welt zu sehen. Schreien müssten wir. Weinen. Und dann handeln. Was diese Erde braucht, sind Menschen, die mitfühlend handeln. Wer sich selbst, seinen Mitmenschen und seiner Umwelt empathisch gegenübertritt, der braucht keine Konkurrenz, um sich stark zu fühlen. Der muss andere nicht erniedrigen, um sich selbst zu erhöhen. Der muss auch nicht dominant sein, um andere zu schwächen.
„Ich mag nicht, dass die Menschen kaum Gefühle zeigen. Ich habe noch keinen Deutschen weinen sehen.“
So lautet die Antwort der Syrerin Nujeen Mustafa auf die Frage, was ihr an den Deutschen nicht gefällt. Ich hoffe und wünsche, dass ich mit meinem Buch einen Beitrag dazu leisten kann, dass wir uns wieder besinnen. Darauf, dass wir ohne unsere Gefühle irgendwann wie Roboter durch das Leben gehen. Dann haben wir vielleicht alles, sind aber ärmer denn je.
Jeannette Hagen stellt zu Anfang ihres Buchs, dem wir ganz viel Erfolg wünschen, ein Zitat von Sophie Scholl vor, das wir von ohfamoos ganz und gar bejahen, es heißt:
„Man darf nicht nur dagegen sein, sondern muss etwas tun und an der Zementmauer der Unmöglichkeit versuchen, kleine Möglichkeiten herauszuschlagen. Zerreißt den Mantel der Gleichgültigkeit, den ihr um euer Herz gelegt habt. Wenn jeder wartet, bis der andere anfängt, wird keiner anfangen.“
Fotos: Maya Meiners; Europa Verlag