Solingen 1993 – Chemnitz 2018: Was Medien daraus machen
Unsere Medien – früher war klar, wie wir uns informieren: Tageszeitung, Tagesschau, ab den 80er Jahren starteten die privaten. Fragt man heute Jugendliche, wie sie sich informieren, sieht das ganz anders aus. Es wird gescannt und gestreamt, nicht unbedingt weniger aber sicher ganz anders gelesen/gehört. Und wir selbst? Welche Medien sind uns noch wichtig, welchen Informationen trauen wir im Zeitalter von Fake News? Wir haben zwei ohfamoose Leser gefragt: Kann man „den“ Medien nicht mehr vertrauen? Diplom-Pädagogin Antje Voß aus Köln beginnt.
Als ich aufwuchs, gehörte die Lokalzeitung zum Frühstückstisch und die Tagesschau lief abends um 20 Uhr. Dies waren die Orte, an denen man die Welt erklärt bekam und etwas lernte.
Das erste Mal stutzig wurde ich im Mai 1993. Der Brandanschlag von Solingen ereignete sich keine 5 km von meinem Elternhaus entfernt. Ich war 14 Jahre und tief betroffen. Als ich Sonntagmorgen hörte, dass nachmittags eine Demonstration in Solingen stattfindet, wusste ich sofort: Da will ich hin, meine Solidarität mit den getöteten Menschen zeigen und gegen Rassismus aufstehen! Ich nahm meine Schwester und eine Freundin mit und fuhr los.
Solingen 1993 – ich begann über Wahrheit und Medien nachzudenken
Die Mehrzahl der Demonstranten waren türkischer Herkunft, aber wir waren auch einige Demonstranten deutscher Herkunft – unter ihnen wir drei Teenager. Am Rand der Straße standen sehr viele Polizisten, zum Teil in kompletter Schutzkleidung und mit Schlagstöcken. Was für ein surreales Bild: Hier wir, die friedlichen Demonstranten und da sie, eine große Anzahl vollgeschützter Polizisten. Die Straßen der Solinger Innenstadt waren relativ leer. Aber wenn man hoch schaute, sah man in den höheren Etagen der Häuser die Menschen an den Fensterbänken zuschauen, was vor sich ging. Bei einem Bäcker scherten wir aus der Menge aus, um etwas zu Essen zu kaufen. Dort wurden wir von einem Kamerateam befragt, was wir von der Demonstration hielten. Ich berichtete, dass ich mir wünsche, dass all die Menschen an ihren Fenstern zu uns auf die Straße kommen, um Gesicht zu zeigen gegen Rassismus.
Abends warteten wir mit Spannung auf den Bericht im Fernsehen. Der Bericht kam, meine Aussagen aber nicht.
Stattdessen wurde von militanten Demonstranten berichtet. Wie konnte das sein?! Das Kamerateam war doch vor Ort gewesen und hatte sogar mit uns gesprochen! Hatten sie nicht zugehört? War mein Statement zu unprofessionell oder waren wir einfach untergegangen in der Menge der Interviews? Waren die Militanten woanders und nur ich hatte sie nicht gesehen? Trotzdem gab es doch ganz klar auch uns, die friedlichen Durchschnittsbürger in dieser Demonstration, warum wurde dies nicht erwähnt?!
An diesem Tag in Solingen 1993 begann ich darüber nachzudenken, wie sich Sachverhalte aus verschiedenen Perspektiven völlig anders darstellen – und ob das, was uns die Medien darstellen, wirklich immer die Wahrheit ist.
Oder ob es sie vielleicht gar nicht wirklich gibt: “DIE” Wahrheit. Besteht die Realität nicht immer aus den verschiedenen Wahrheiten vieler? Oder wie Sokrates schon vor 2400 Jahren wusste: “Die Wahrheit liegt in der Mitte”.
Chemnitz 2018: Ganze 25 Jahre später
25 Jahre später sehe ich die Berichte aus Chemnitz und wie wütend und betroffen die Bürger sind, dass ihre Stadt von der Presse als “braune” Stadt betitelt wird. Viele sind enttäuscht, dass zu wenig über die friedlichen Demonstrationen berichtet wird. Ohne die Lage in Chemnitz beurteilen zu können oder zu wollen, weiß ich, wie es sich anfühlt, wenn man das subjektive Erleben nicht in Einklang bringen kann mit der Berichterstattung in den Medien – und Solingen blieb nicht mein einziges Erlebnis dieser Art.
Ein Vierteljahrhundert ist vergangen und durch das Internet und die sozialen Netzwerke sind viele neue Informationsmöglichkeiten entstanden. Aber die Frage bleibt die gleiche: “Wie kann ich die Welt möglichst umfassend verstehen?”
Laut einer Studie aus dem Jahr 2017 stimmen nur 44 % der Befragten der Aussage zu, dass journalistische Nachrichtenmedien wirklich dabei helfen, „Fakten und erfundene Geschichten auseinanderzuhalten“. Einer von vielen interessanten Befunden, die das Reuters Institute for the Study of Journalism aufzeigt.
Dies war in den 90ern noch anders. Ein Wendepunkt war sicher der Irakkrieg. Hier wurden bewusste Fake News weiter verbreitet, zum Beispiel die Lüge des amerikanischen Außenministers Colin Powell, dass es Beweise für irakische Massenvernichtungswaffen gebe. Erst als Powell sich 2005 öffentlich für seine Lüge aus dem Jahr 2003 entschuldigte, wurde klar, welche Macht eine öffentlich weitergetragende Falschinformation hat (in diesem Fall die Unterstützung der Angriffe auf den Irak zu erhöhen).
Wenn dies damals geschah, dann geschieht es vielleicht auch heute. Wie gehen wir damit um?
Alternative Medien ergänzen das Bild von unserer Welt
Hinter allen Medien stehen Menschen, die eine bestimmte Weltsicht vertreten. Um der Macht der großen Medienkonzerne etwas entgegen zu setzen, entstanden die sogenannten “alternativen” Medien.
Die Idee ist, dass Mitarbeiter unabhängiger schreiben können, da die Mitarbeiterstrukturen weniger hierarchisch sind und Ehrenamtler (mit)gestalten. Es geht darum, Plattformen zu bieten für Texte, teilweise ohne inhaltlich einzugreifen (Kollegen sollen keine Chefredakteur-Funktion übernehmen). Die meisten alternativen Medien sind durch Spenden finanziert und können – da sie keine Gewinne erzielen müssen – auch Formate anbieten, die in anderen Medien keine Chance hätten (zum Beispiel Diskussionsrunden, die über 2 oder 3 Stunden gehen).
Natürlich haben auch die alternativen Medien ihre eigenen Sichtweise auf die Welt. Mir hilft aber die Kombination aus etablierten und alternativen Medien, ein ausgewogeneres Bild zu erhalten.
Während in vielen etablierten Medien beim Thema Syrienkrieg zum Beispiel oft von einem undurchsichtigem Bürgerkrieg gesprochen wurde, beleuchteten die alternativen Medien viel stärker die Rolle des Westens und die Interessen hinter den jeweiligen Positionen. Wie ist die arabische Sicht auf den Krieg? Wie die amerikanische? Und wie die russische? Welche Werte, aber auch welche wirtschaftlichen Interessen stehen hinter den Positionen? Man muss kein Verschwörungstheoretiker sein, um zu wissen, dass es eine Waffenlobby gibt und Öl- und Gasgeschäfte auch eine große Rolle in der Nahost-Politik spielen.
Vielfalt hilft und ist ein Gewinn zum besseren Verständnis
Wer schreibt, hat etwas zu sagen. Dies völlig neutral zu tun, ist schwer. Probematisch ist aus meiner Sicht, dass viele Artikel und Berichte starke Meinungsmache betreiben und oft keine neutralen Begriffe verwendet werden.
Zölle (ein Außenhandelsinstrument, das es immer schon gab) werden beispielsweise häufig als “Strafzölle“ bezeichnet und es ist die Rede vom “Handelskrieg”. Beides sind keine beschreibende Wörter, sondern enthalten bereits Wertungen , die nur in eindeutig als Stellungsnahme gezeichnete Kommentare gehören und nicht in Artikel. Der gegenteilig wertende Begriff heisst Schutzzoll. Die Wahl des Wortes sagt nichts über den Zoll, aber einiges über den eigenen Standpunkt aus (bin ich für den Zoll verwende ich das Wort Schutzzoll, bin ich dagegen ist es ein Strafzoll).
Wenn über die Krim gesprochen wird, ist fast immer von einer “Annektierung” von russischer Seite die Rede. Dass es ein Referendum gab, in welchem sich die Bevölkerung mehrheitlich für die Zugehörigkeit zu Russland entschieden hat, wird selten erwähnt. Dabei geht es nicht nur um die Frage, ob dieses Referendum anerkannt werden sollte oder nicht; allein der Begriff Annektierung impliziert, dass die Frage nach gut und böse hier nicht mehr gestellt wird, denn die Rollen sind klar verteilt.
Ein gern verwendeter wertender Begriff in Artikeln ist auch das Wort “Regime”, das meist mit abwertender Konnotation verwendet wird. Es gibt Artikel über die deutsche und die französische Regierung, aber die iranische Regierung ist häufig “das iranische Regime”. Und was passiert? Dadurch, dass dieses Wort so oft gebraucht wird, fühle ich mich gedrängt negativ zu denken.
Warum diese eindeutige Stellungsnahme außerhalb der als Kommentar gekennzeichneten Artikel? Ich möchte mir meine Meinung lieber selbst bilden!
Da die Welt vielfältig ist, brauchen wir auch eine vielfältige Medienlandschaft und kontroverse Diskussionen, bei denen sich gegenseitig zugehört wird und sachlich argumentiert wird, jenseits der Klischees “Verschwörungstheoretiker gegen Imperalisten”.
Was tun, um die Welt besser zu verstehen?
- Kein blindes Vertrauen, in keine Art von Medien – sondern sich umfassend informieren.
- Die Vielfalt der Perspektiven ist anstrengend, da man seinen Standpunkt immer wieder hinterfragen und eventuell revidieren muss; aber sie ist auch ein Gewinn.
- Es genügt nicht mehr, die Tagesschau zu schauen. Ob dies jemals genügt hat?
Bei alldem: Ich bleibe Optimist. Die Welt ist nicht so schlecht, wie sie manchmal dargestellt wird; ich glaube an die Menschen. Gleichzeitig bin ich Realist – ja, es gibt Geheimdienste und nationale Interessen, die primär an Profit und nicht an menschlichen Bedürfnissen oder Frieden ausgerichtet sind.
Deshalb: Wir können den Medien nicht blind vertrauen, sondern müssen selber denken. Dass wir Zugang zu so vielen verschiedenartigen Medien haben, empfinde ich als große Bereicherung. Wie erlebt ihr es?
Gastautorin Antje Voß wohnt in Köln und genießt gerade ein Sabbatjahr. Als Diplom-Pädagogin mit Schwerpunkt interkulturelle Bildung war sie viele Jahre in der internationalen Jugendarbeit tätig und interessiert sich für alles, was mit Gesellschaft, Psychologie, Reisen und Politik zu tun hat, aber auch für Musik, Sport und Astrologie. Immer zu haben für gute Gespräche in netten Cafés, inspirierende Veranstaltungen oder Ausflüge mit ihren beiden Kindern. Morgens trifft man sie zur Zeit außerdem an der Uni (als Gasthörerin für Islamwissenschaften, Recht und Ethnologie).
Medien und Flüchtlinge: Die Medienberichterstattung über die Insel Lesbos
Was sind eigentlich „Alternative Medien“? Ein Interview mit Kommunikationswissenschaftlerin Natascha Buhl
Fotos: Unsplash (Keenan Constance und Robin Worall) und Pixabay (Diema und KevinKing)
Klasse ! Sehr gut dieser Beitrag 👍
Apropos ausgewogeneres Bild, das Du ansprichst, liebe Antje: Gestern fiel mir erneut die Titelseite der BILD ins Auge: Es ging um Streit, Hass, Trennung, Scheidung und die 5. Hochzeit von Herrn Schröder :-). Ich war so fasziniert von all dem Schlechten, was der Boulevard da wieder zauberte, dass ich fast meine Bestellung an der Brötchentheke vergaß… Und gewandt an die nette Verkäuferin hörte ich mich sagen: Bin ich froh bei Ihnen zu sein, hier ist es richtig schön 🙂 Manchmal braucht man noch nicht einmal ein alternatives Medium sondern nur in die andere Richtung zu schauen und schon wird es ausgewogener …
sehr guter beitrag. weiter so!
Morgen (11.10.) kommt ein neuer zum Thema – mal sehen, wie Ihnen dieser gefällt … 🙂