Lesbos: Journalismus voller Sensationen?
Zufällig kamen wir in Kontakt, Iannis Troumpounis und ich. Der Besitzer des griechischen Hotels Votsala auf Lesbos war mir empfohlen worden. Er – und deutsche Urlauber – hätten spannende Fakten über die Insel. Lesbos kennt ja vermutlich jeder aus den Medien, nachdem dort v.a. im letzten Jahr so viele Flüchtlinge zu versorgen waren. Aber wie sieht es 2016 dort aus? Iannis hat mir viel berichtet. Und ich habe Johanna Martin befragt: Die Deutsche reist seit 10 Jahren nach Lesbos und spricht von Sensationsjournalismus.

Iannis Troumpounis (Mitte) im Gespräch mit seiner Frau Daphne (links) und deutschen Urlaubern auf Lesbos, rechts: Johanna Martin
Schon lange ist Iannis Troumpounis zusammen mit seiner Frau Daphne in der Flüchtlingshilfe aktiv. Und er nimmt kein Blatt vor den Mund. Die Inselbewohner, sagt er, fühlten sich bestraft. Mit aller Kraft und Nächstenliebe hätten so viele den Flüchtlingen geholfen, würden es auch heute noch tun – aber obwohl schon längst kein Chaos mehr herrsche und man zur Normalität zurückgefunden habe, vermittelten viele Medien ein sehr einseitiges Bild. Und er betont mit Nachdruck:
„Unser Inselleben ist so vielfältig! Warum schreiben manche Medien uns so runter? Ich kenne Berichte von Journalisten, die – wenn überhaupt – nur flüchtig hier vor Ort waren. Wo ist die journalistische Sorgfalt?“
Besonders aufgeregt hat er sich über eine Reportage in der Süddeutschen Zeitung, die dem bekannten Schriftsteller Najem Wali unter dem Titel „Gefangen zwischen Hoffnung und Wut“ viel Raum gegeben hatte. Darin hatte Wali, der aus dem Irak kommt und in Deutschland lebt, „als Schriftsteller seine Eindrücke beschrieben“. Und das „durchaus subjektiv“, wie mir auch die Feuilleton-Chefin der SZ auf Nachfrage antwortet. Sie erklärt: Stets sei jedoch kenntlich, dass es sich um seine persönlichen Eindrücke als Künstler handele.
„Reißerische Berichterstattung“
Dazu befrage ich Johanna Martin, die seit 2006 nach Lesbos reist und in Berlin an der Charité International Academy ausländischen Ärzten Deutsch als medizinische Fachsprache vermittelt. Zusammen mit ihrem Mann Matthias Messmer hatte sie sich in einem Leserbrief an die SZ gewandt. Dieser wurde zwar spät, letztlich jedoch veröffentlicht …
Frau Martin, in Ihrem Leserbrief schreiben Sie, Najem Wali und die SZ verzerrten die aktuelle Situation, warum?
Johanna Martin: Weil hier einige Behauptungen aufgestellt und bestimmte Informationen weggelassen wurden, die ein falsches Bild von der Situation auf Lesbos vermitteln; und das auf Kosten der griechischen Bevölkerung, die sich schon seit Jahren für die gestrandeten Menschen auf ihrer Insel einsetzt.
Nur gibt es sie doch, Geflüchtete in Camps, deren Lage aussichtslos ist, oder?
Ja, die gibt es, und zwar nicht erst seit dem vergangenen Jahr, als sich die internationalen Medien mit Berichten über die katastrophale Situation auf Lesbos regelrecht überschlugen. Wir beobachten schon seit Jahren, dass die europäische Politik keine sinnvolle Lösung für eine reguläre Einreise von Geflüchteten hat. Darum unterstützen wir auch Najem Walis Ansatz, auf die Lage der Menschen aufmerksam zu machen, die auf Lesbos in eine Sackgasse geraten sind.
Aber?
Es gibt eben mehrere Seiten! Mein Mann und ich fahren seit 10 Jahren nach Lesbos und erlebten diesen Sommer zum ersten Mal hautnah die Ausmaße einer, wie wir finden, reißerischen Berichterstattung. Wenn Wali mitten in der Hauptreisezeit die Insel als „Gefängnisinsel“ und „Guantanamo“ bezeichnet, klingt das jedenfalls nach genau diesem Sensationsjournalismus, der sich wenig um die Kollateralschäden schert, die er anrichtet.
Welche Schäden beobachten Sie?
Wenn wir Vergleiche zu den vorangegangenen Jahren ziehen, ist es deutlich zu sehen, dass der Tourismus durch diese abschreckende Berichterstattung stark zurückgegangen ist. Alleine die ankommenden Flüge haben sich halbiert.
Nun hat Lesbos keine riesigen Hotelanlagen mit pauschalen ‚Touristenattraktionen’, aber der dramatische Rückgang von Reisebuchungen trifft hier Menschen und Unternehmen, die über Jahre eine touristische Kultur geschaffen haben, existentiell.
Falsche Behauptungen über Lesbos
Dabei sind die Befürchtungen der Touristen unbegründet. Aus eigener Ansicht bestätige ich: Lesbos hat zur Normalität zurückgefunden – das wird jedoch in der Berichterstattung einfach negiert, Bilder der „Flüchtlingswelle“ vom vergangenen Jahr werden weiter aufrechterhalten. Außerdem stellt Wali Behauptungen auf, die er in seinem Artikel nicht weiter belegt.
Was meinen Sie ganz konkret?
Nicht nachvollziehbar ist z.B. die Unterstellung, man wolle auf der Insel nur „Sondervergünstigungen und Gelder durch die griechische Regierung und die Europäische Union“ ergattern – woher hat Wali diese Information? Solche Behauptungen können gewachsene Strukturen langfristig zerstören. In Bezug auf die Situation der Geflüchteten sind ihm jedenfalls wichtige Informationen entgangen – oder wollte er bewusst nur über die negativen „Vorzeigelager“ Kara Tape und Moria berichten?
Gibt es denn positive Eindrücke und waren Sie selbst vor Ort?
Ja. Er schreibt z.B. nichts über das offene Flüchtlingslager Pikpa, das schon seit einigen Jahren von Einheimischen als „Village of all together“ organisiert wird. Wahrscheinlich hat Wali auch nichts erfahren über das Refugees Support Center in Mythilini, das von dieser Gruppe in Zusammenarbeit mit Borderline Europe eröffnet wurde. Hier erhalten Geflüchtete unter anderem Sprachkurse. Es existiert ein täglicher Bustransfer zu den Lagern Kara Tepe und Moria. Dieser würde wenig Sinn machen, wenn die „Insassen“ diese Lager überhaupt nicht verlassen dürften. Das aber suggeriert Wali. Ich stelle nicht in Abrede, dass die Situation für die Geflüchteten auf der Insel äußerst belastend ist. Sie darf auch kein Dauerzustand bleiben.
In der medialen Berichterstattung werden positive Entwicklungen dennoch immer wieder ausgeblendet.
Nennen Sie gern weitere Gegenbeispiele!
Zum Beispiel das Lager Kara Tepe: Letzten Sommer schliefen die Menschen hier unter freiem Himmel auf dem blanken Boden, es gab keine sanitären Anlagen. Das Lager versank nach kurzer Zeit im Schlamm, Krankheiten breiteten sich aus, es gab keine ärztliche Versorgung. Unterdessen ist das Lager mit Zelten und Containern gut organisiert. Es gibt Betreuung für die Kinder, Sportkurse und sogar eine Bibliothek.
Das geht sicher nur mit vielen freiwilligen Helfern, oder?
Ja. Als wir dort waren, wurde an einer weiteren medizinischen Station gearbeitet, in der dann auch komplexere Eingriffe und OPs durchgeführt werden können. Es wurde eine Kinderolympiade veranstaltet, an der sich auch Touristenkinder aus unserem Hotel beteiligten. Würde das Lager, wie Nejam Wali es beschreibt, durch das Militär geführt und mit Stacheldraht abgeriegelt, wäre das sicher nicht möglich gewesen. Die Realität in Kara Tepe ist natürlich nicht rosig.
Aber man kann sie nicht einfach mit der Situation im Registrierungslager Moria gleichsetzen und damit die Arbeit der freiwilligen Helfer diskreditieren, die hier täglich Unglaubliches leisten.
Was bedeutet dies für die mediale Berichterstattung?
Ich befürchte, dass solche Infos schlicht nicht ins Bild von „Guantanamo“ passen und deshalb vernachlässigt werden. Denn das eigentliche Problem, das Wali ja zu Recht anprangert, ist die Tatsache, dass die Geflüchteten nicht wissen, wie es mit ihnen weiter geht. Dieser Zustand ist menschenunwürdig und muss so schnell wie möglich beendet werden. Das ist niemandem so klar wie der griechischen Bevölkerung. Sie hat nun schon seit Jahren die europäische Politik der Abschottung auszubaden.
Sie reisen also weiter nach Lesbos und empfehlen es sogar?
Genau so ist es! Denn trotz aller „Flüchtlingskrisen“ ist die Insel nach wie vor ein wunderbarer Ort – auch um Urlaub zu machen. Und seine leidgeprüften Bewohner haben unsere Unterstützung nicht nur in Form von Spenden und Flüchtlingshelfern sondern auch durch uns als Touristen dringend verdient! Die Realität auf Lesbos ist eben sehr viel komplexer und widersprüchlicher als es viele Medien wahrhaben wollen.
Nach diesem Interview habe ich mich gefragt: Warum war ich dieses Jahr nicht auf Lesbos? Denn zusammen mit meiner Familie war ich zwar bewusst in Griechenland, aber auf Kreta – auch weil wir eben Medienberichte kannten, die Lesbos in keinem günstigen Licht erscheinen ließen. Heute würde ich anders entscheiden. Und beim nächsten Urlaub ans Meer werde ich mich an Iannis wenden, versprochen. (Anmerkung: Elke ist 2018 tatsächlich auf Lesbos gewesen, hier ihr Bericht.)
Fotos: privat Vamos Reisen